Interview
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Benjamin Stromberg & Dirk Dobiéy

Ich bewundere den Mut zu Entscheidungen, bei denen die Folgen nicht klar absehbar sind

Interview mit Kunsthistoriker und Autor Wolfgang Ullrich

Wolfgang Ullrich hat sich in seinem Leben intensiv mit Kunst und ihrer Bedeutung für unsere Gesellschaft beschäftigt und vermag es sein Fachwissen mit bestechenden Analysen gegenwärtiger gesellschaftlicher Phänomene zu verknüpfen. So könnte man in ihm einfach einen Kritiker sehen, doch Meister der Reflexion trifft es eher – eine Eigenschaft, die er auch bei seinen Mitmenschen schätzt.

Wir haben mit ihm über unsere gegenwärtige Gesellschaft gesprochen und darüber, wie sinnvoll es ist Wirtschaft und Kunst zusammenzudenken. „An sich scheint mir, dass unsere Gesellschaft die vielleicht differenzierteste und ehrgeizigste Gesellschaft bislang ist. In vielen Bereichen haben wir eine Demokratisierung erlebt, wobei viele Menschen auch die ökonomische Basis haben, um über Themen reflektieren zu können. Zu anderen Zeiten war das nicht so einfach möglich. Ich beobachte immer wieder, dass man in Gesprächen mit anderen schnell ein Feld findet, auf dem sie sich richtig gut auskennen. Dabei geht es nicht nur um Faktenwissen, sondern auch um Reflexionswissen, um Erfahrungswissen und Feinfühligkeit. Somit ist in den letzten Jahrzehnten schon einiges passiert, aber vielleicht wird diese Entwicklung noch zu wenig gewürdigt“.

Kritisch sieht Ullrich in diesem Zusammenhang vor allem eine gewisse Arroganz einiger Menschen, die aus der Möglichkeit erwachsen kann, sein Leben individuell und sinnhaft auszugestalten. „Heute kann man Dinge zum Ausdruck bringen, die in früheren Zeiten nicht möglich waren, da weitgehend festgelegt war, was als richtiges und gutes Leben galt. Daher ist es auch fantastisch, dass man in einer hoch individualisierten Gesellschaft leben kann. Für mich wird es ab der Stelle problematisch, wo die Menschen nur deshalb, weil sie ein sinnhaftes Leben führen, meinen, sich über andere erheben zu können, die weniger Möglichkeiten haben, ein sinnhaftes Leben zu führen. Das liegt daran, dass man die Werte oft gleichsetzt mit Moral und Tugend. Dadurch glaubt man schnell, nur weil man nach Werten lebt, sei man auch schon ein besonders moralischer oder tugendhafter Mensch. Doch eigentlich hat man nur Glück gehabt, dass man Begabungen, Geld und auch die Zeit hat, um das eigene Leben sinnhaft zu gestalten.“ Eine gewisse Demut als Grundbedingung bei der Verfolgung seines eigenen Glücks ist etwas, dass bei sehr vielen Künstlern beobachtet werden kann. Sie wissen, dass sie das was notwendig ist, zwar mit Entschlossenheit, Mut und Ausdauer verfolgen und einen persönlichen Standpunkt haben müssen. Sie wissen aber auch, dass sie ihr eigenes Ego überwinden müssen, um etwas Neues zu schaffen. Eigene Werte zu haben und gleichzeitig in der Lage zu sein, diese zu transzendieren mag sich widersprüchlich anhören. Und das ist es auch. Im besten Fall führt es aber dazu sein eigenes Ego einem übergeordneten Zweck, beispielsweise dem Werk, unterzuordnen, statt die individuelle Lebensweise zur allgemeinen Tugend zu erheben.

Eine solche Form der Sinnhaftigkeit in den Unternehmen zu verankern, in denen wir arbeiten, hält Ullrich grundsätzlich für eine exzellente Idee. Er teilt den Gedanken, dass künstlerischen Handlungsmustern hierbei eine Schlüsselrolle zukommen könnte: „Soweit ich Erfahrungen mit Unternehmern gesammelt habe, würde ich sagen, ich bewundere den Mut zu Entscheidungen, bei denen die Folgen nicht klar absehbar sind. Man weiß zum Beispiel, dass man dadurch nicht nur selbst in eine blöde Lage gerät, sondern vielleicht auch Mitarbeiter entlassen muss. Die vier Punkte (Anm.: wahrnehmen, reflektieren, spielerisches gestalten und aufführen), die Sie vorhin angesprochen haben, die Sie als Eigenschaften oder auch Neigungen von Künstlern identifiziert haben sind sicherlich auch ganz nützlich für Unternehmer oder andere Menschen, die Erfolg haben wollen.“

Ullrich betont auch, dass die Verknüpfung von Wirtschaft und Kunst nicht unreflektiert erfolgen sollte. Selbstverständlich bestünden nach wie vor Differenzen, über die nicht hinweggesehen werden dürfte: „Es wird nur nach Ähnlichkeiten gesucht, wodurch zum Beispiel der Unternehmer als Dirigent bezeichnet wird. Es wäre aber auch mal produktiv, Unterschiede hervorzuheben. Man sollte somit mal die Frage stellen, was es heißt, dass der Unternehmer für so viele Mitarbeiter verantwortlich ist und die meisten Künstler dies in der Regel nicht sind. Nehmen wir zum Beispiel eine berühmte Rede von Jürgen Ponto aus den frühen 1970ern, in der er ausgiebig und einseitig die Analogien zwischen Künstlern und Managern beschwor. Ich meine gar nicht, dass falsch ist, was er gesagt hat, aber man kann nun nicht sagen, dass sie bis zum Verwechseln ähnlich sind und jeder Unternehmer auch ein Künstler und jeder Künstler auch ein Unternehmer ist. Es gibt immer noch Unterschiede, die wir nicht verwischen sollten.“

Daneben unterscheiden sich Unternehmer und Künstler vor allem in Hinblick auf das Publikum und das Produkt, was sie anbieten: „Die Abhängigkeiten sind bei einem Unternehmer im Allgemeinen größer. Das muss man aber gar nicht nur negativ beschreiben. Wenn ein Unternehmer soziales Gespür hat, setzt er es sicher auch zugunsten der Wünsche der Kunden ein. Für mich ist es aber so, dass ein Unternehmer diese Fähigkeit notwendig braucht, ein Künstler hingegen nicht. Selbstverständlich zeugen beide „Produkte“ von diesem Unterschied, und ich finde es auch wichtig, dass es beides auf der Welt gibt. Es muss Produkte geben, die genau nach den Ansprüchen der Kunden orientiert sind, aber es muss auch die Produkte geben, die nach den Ansprüchen des Produzenten erstellt sind. Man benötigt beides, und vor allem braucht man auch Dinge, die man vielleicht zuerst nicht versteht oder nicht mag. Erst dann setzt man sich damit auseinander. Diesen Unterschied würde ich gerne hochhalten.“

Letztlich entscheidend sind für Ullrich Kreativität und das ernsthafte Interesse, mit der sowohl Unternehmer als auch Künstler ihrem Publikum begegnen können. „Durch seine kreative Art kann ein Unternehmer auch eine Beziehung zum Kunden herstellen. Dennoch kann man natürlich auch den Kunden ein wenig in seinen Wünschen manipulieren. Erst letzte Woche hatte ich ein Gespräch mit einem sehr erfolgreichen Unternehmer aus dem Medienbereich. Dieser hat mir erzählt, dass er auf jede Autobahntoilette gehe, um zu hören, was die Leute so alles reden. Auch deshalb ist er erfolgreich geworden. Sein Credo besteht daher darin, dass man immer den Leuten zuhören muss und überall hingehen muss, wo man über deren Sorgen und Wünsche erfährt.“

Das komplette Interview mit Wolfgang Ullrich online lesen

Einleitung

Wolfgang Ullrich ist ein deutscher Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler. Nach seiner Dissertation über das Spätwerk Martin Heideggers 1994 war er freiberuflich tätig als Autor, Dozent und Berater. Von 1997 bis 2003 arbeitete er als Assistent am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste München, danach nahm er Gastprofessuren an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg und an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe an. Von 2006 bis 2015 lehrte er als Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Seither ist er freiberuflich tätig als Autor, Kulturwissenschaftler und Berater. In seinen zahlreichen Publikationen setzt er sich vor allem mit der Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs und modernen Wohlstandsphänomenen auseinander. Ullrich lebt in Leipzig und München.

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AoA: Was bedeutet es für Sie, die Kunst tiefer zu hängen?

Wolfgang Ullrich: Die Kunst tiefer zu hängen bedeutet für mich, dass man sie von Ansprüchen, die sie letztendlich vielleicht mehr erdrücken als erheben, befreit. Anhand der historischen Entwicklungen kann man das eigentlich ganz gut festmachen. Spätestens ab dem 18. Jahrhundert, welches auch als die Zeit der sogenannten Kunstreligion gilt, wurde von der Kunst nahezu jegliche Art von Heil- oder Sinnstiftung erwartet. Die Kunst sollte seit damals die Menschen aus jeder möglichen Form von Abhängigkeit befreien, sollte dabei helfen, Einseitigkeit zu überwinden, oder ganz allgemein die Gesellschaft verbessern. Sie sollte aber auch Ausnahmezustände erlebbar machen, die sonst nicht erlebt werden konnten. An die Kunst wurden unglaublich viele Ansprüche gerichtet. Es geht mir aber gar nicht darum, im Einzelfall zu prüfen, ob die Kunst das kann oder nicht oder welche Kunst es kann und welche nicht. Mir geht es darum, einfach mal festzustellen, dass diese unglaubliche Menge von parallel erhobenen Ansprüchen eben doch auch Hypotheken ist. Diese Ansprüche wirken nicht unbedingt anspornend, motivierend oder stimulierend, sondern können auch gerade für die, die Künstler werden, einengend und belastend sein. Daraus entstand das Credo, die Kunst wieder freier von den Ansprüchen zu machen und einfach zu schauen, was passiert, wenn sie unbelasteter entstehen kann.

AoA: Joseph Beuys meinte, jeder Mensch sei ein Künstler. Wo liegt die Verbindung zwischen seiner und Ihrer Idee?

Wolfgang Ullrich: An der Karriere dieses Satzes von Beuys kann man sehr schön zeigen, wie stark der Drang ist, immer dann, wenn Kunst ins Spiel kommt, auch gleich mit Ansprüchen zu kommen. Ursprünglich sollte dieser Satz von Beuys ebenfalls befreiend wirken. Beuys wollte den Menschen das Gefühl geben, dass, auch wenn sie nicht Kunst studiert haben und sich nicht als Künstler verstehen, sie vielleicht doch Fähigkeiten oder Qualitäten haben, die eine allgemeine Würdigung verdienen. Beuys machte es selbst einmal am Beispiel des Kartoffelschälens klar. Man kann die Kartoffeln mit Hingabe so schälen, dass es sich dabei um einen gestalterischen wie auch um einen sozialen Akt handelt. Schält jemand etwa für eine ganze Familie Kartoffeln, überlegt diese Person auch, was man daraus kochen kann und denkt an die einzelnen Familienmitglieder. Warum sollte man diesen sozialen Akt geringer achten als jeden anderen Akt? Warum sollte er nicht auch als Form von Kunst gewürdigt werden? Somit wollte Beuys mit diesem Satz den Menschen mehr Mut, Vertrauen und Selbstständigkeit geben. Daher hatte es etwas sehr Emanzipatorisches und Demokratisches. Doch die weitere Karriere dieses Satzes zeigt, dass die Rede vom Künstler zu bedeutungsschwer ist. Statt sich geadelt zu fühlen, wuchs bei vielen die Sorge, mit dem, was sie tun, gerade nicht den Ansprüchen eines Künstlers genügen zu können. Der Satz lässt sich daher schon fast wie eine Art Bedrohung lesen. „Oh je, ich muss immer noch kreativer sein“. Plötzlich empfinden sich die Leute im Angesicht dieses Satzes also als zu unkreativ, zu wenig dynamisch oder auch zu wenig individuell und energisch. Daher hat sich dieser Satz hinsichtlich seiner Wirkung in das Gegenteil seiner ursprünglichen Intention verkehrt. Somit müsste man auch diesen Satz wieder etwas tiefer hängen – indem man den Begriff des Künstlers tiefer hängt, also letztlich die Idee der Kunst tiefer hängt.

AoA: Während Ihrer Arbeit sind Sie bestimmt vielen Künstlern , ihren Praktiken und ihren Vorgehensweisen begegnet. Worin unterscheiden sich Künstler in ihrer Arbeit, in ihren Handlungen und vielleicht auch in ihren Haltungen von anderen?

Wolfgang Ullrich: Die Künstler, die ich schätze, zeichnen sich dadurch aus, dass sie in großer Konsequenz und auch über längere Zeiträume hinweg geradlinig arbeiten. Sie denken nicht nur in kurzen Intervallen, sondern ziehen die Entwicklung ihres Werks konsequent durch. Das kann die Folge eines reflektierten Konzeptes, der Ausdruck eines bestimmten Habitus oder auch die Widerspiegelung einer bestimmten Mentalität sein. Zusammengefasst ist es wohl eine gewisse Unbeirrbarkeit, die ich als wesentliche Eigenschaft nennen würde. Diese drückt sich sogar dann aus, wenn ein Künstler im Auftrag tätig wird. So wird er diesen so einbetten oder integrieren, dass er in sein eigenes Konzept und seine eigene Vorstellung von richtig und falsch passt. Somit ist die künstlerische Arbeit eine stark eigenmotivierte Arbeit.

AoA: In unseren zahlreichen Gesprächen mit Künstlern konnten wir feststellen, dass die künstlerische Praxis einem nicht-linearen Prozess folgt. Dieser orientiert sich zwar an einer mehr oder weniger konkreten Vorstellung, gestaltet sich aber aus dem ständigen Dialog des Künstlers mit seinem Kunstwerk heraus immer wieder neu. Der Prozess verbindet wiederkehrende Muster von Arbeitsweisen, die über viele oder alle Genres hinweg nachweisbar sind und sich als Wahrnehmung, Reflexion, Spiel und Aufführung zusammenfassen lassen. Sind Ihnen diese Begriffe auch schon so untergekommen und würden Sie dem etwas hinzufügen?

Wolfgang Ullrich: Diese Begriffe kommen mir erst einmal sehr plausibel vor. Ich könnte auch direkt für alle Begriffe Künstler oder Künstlerinnen nennen, die diese idealtypisch verkörpern. Diese Personen könnten damit aber auch vorbildhaft für Menschen aus anderen Bereichen wirken. Ich würde das ohnehin nicht auf die bildende Kunst beschränken wollen, da ich die Berechtigung dieser Begriffe etwa auch in der Literatur sehe.

AoA: Was könnten wir tun, damit sich diese Bereiche noch weitreichender in unserer Gesellschaft ausprägen?

Wolfgang Ullrich: An sich scheint mir, dass unsere Gesellschaft die vielleicht differenzierteste und ehrgeizigste Gesellschaft bislang ist. In vielen Bereichen haben wir eine Demokratisierung erlebt, wobei viele Menschen auch die ökonomische Basis haben, um über Themen reflektieren zu können. Zu anderen Zeiten war das nicht so einfach möglich. Ich beobachte immer wieder, dass man in Gesprächen mit anderen schnell ein Feld findet, auf dem sie sich richtig gut auskennen. Dabei geht es nicht nur um Faktenwissen, sondern auch um Reflexionswissen, um Erfahrungswissen und Feinfühligkeit. Somit ist in den letzten Jahrzehnten schon einiges passiert, aber vielleicht wird diese Entwicklung noch zu wenig gewürdigt. Denken Sie etwa auch an den durchschnittlichen Bildungsgrad. Er ist heute viel höher als zu anderen Zeiten. Man hatte ehedem vielleicht eine ausgeprägtere Spitze, aber dann hat es sich auf diese Spitze reduziert. Daher möchte ich nicht mit einer Gesellschaft von vor 100 oder 200 Jahren tauschen.

AoA: Haben Sie demnach vor dem technologischen Fortschritt, sagen wir zum Beispiel den sozialen Medien, keine Angst?

Wolfgang Ullrich: Ich beobachte einiges schon mit Sorge. Doch die Sozialen Medien sehe ich auch als einen Ort, an dem viele Dinge vorankommen und viel Austausch stattfindet. Ich lerne jeden Tag viel durch meine Instagram- oder Twitter Accounts. Natürlich ist es aber auch viel wichtiger als früher, dass man eine gewisse Medienkompetenz besitzt. Dadurch kann man das, was einem schadet, besser von dem trennen, was einem nützt. Ich sehe aber auch keinen Anlass für einen gesellschaftlichen Pessimismus.

AoA: In künstlerischen Bereichen ist uns der Aspekt der Sinnhaftigkeit häufig begegnet. Wie stellt sich für Sie die Verbindung von Sinnhaftigkeit und Werten dar, denen Sie mitunter auch kritisch gegenüberstehen?

Wolfgang Ullrich: Zunächst sind Werte ein tolles Instrument, weil sie es uns erlauben, individuell dem Leben einen Sinn zu geben. Werte können immer wieder individuell ausgestaltet und gelebt werden. Heute kann man Dinge zum Ausdruck bringen, die in früheren Zeiten nicht möglich waren, da weitgehend festgelegt war, was als richtiges und gutes Leben galt. Daher ist es auch fantastisch, dass man in einer hoch individualisierten Gesellschaft leben kann. Für mich wird es ab der Stelle problematisch, wo die Menschen nur deshalb, weil sie ein sinnhaftes Leben führen, meinen, sich über andere erheben zu können, die weniger Möglichkeiten haben, ein sinnhaftes Leben zu führen. Das liegt daran, dass man die Werte oft gleichsetzt mit Moral und Tugend. Dadurch glaubt man schnell, nur weil man nach Werten lebt, sei man auch schon ein besonders moralischer oder tugendhafter Mensch. Doch eigentlich hat man nur Glück gehabt, dass man Begabungen, Geld und auch die Zeit hat, um das eigene Leben sinnhaft zu gestalten. Daher darf man nicht herabblicken auf die anderen Leute, die dieses Glück nicht hatten. Man muss eher versuchen, denen zu helfen, oder zumindest tolerant und nachsichtig sein.

AoA: Somit grenzt man beim Ausleben der eigenen Werte andere aus?

Wolfgang Ullrich: Genau, das ist die Gefahr dabei. Somit sind wir auch hier wieder bei meinem Appell des Tieferhängens. Ich empfehle, dass man nach seinen Werten leben und auch das Beste daraus machen soll, aber dass man auch bitte wieder auf den Boden zurückkommen soll. Man hat nicht das Recht, sich so zu fühlen, als ob man anderen moralisch überlegen sei. Daher kommt auch mein Begriff des Moraladels, der vor allem kritisch gemeint ist. Nur weil manche eine Crowdfunding-Kampagne starten, um zum Beispiel nachhaltige Sneakers zu produzieren, meinen sie bereits, dass sie den alternativen Nobelpreis verdient hätten.

AoA: Demnach ist nach Ihrem Verständnis die Sinnhaftigkeit eine, die sich nicht durch Abgrenzung von allem anderen definiert, sondern aus sich selbst heraus Kraft entwickelt hat?

Wolfgang Ullrich: Ja, so sehe ich das. Dadurch hat man die Kraft, inklusiv zu wirken und nicht exklusiv.

AoA: Denken Sie bitte noch einmal an Ihre Erfahrungen aus dem künstlerischen Bereich. Was können die Menschen aus der Wirtschaft oder Politik davon lernen? Was sollten wir uns zu Herzen nehmen?

Wolfgang Ullrich: Soweit ich Erfahrungen mit Unternehmern gesammelt habe, würde ich sagen, ich bewundere den Mut zu Entscheidungen, bei denen die Folgen nicht klar absehbar sind. Man weiß zum Beispiel, dass man dadurch nicht nur selbst in eine blöde Lage gerät, sondern vielleicht auch Mitarbeiter entlassen muss. Die vier Punkte, die Sie vorhin angesprochen haben, die Sie als Eigenschaften oder auch Neigungen von Künstlern identifiziert haben, sind sicherlich auch ganz nützlich für Unternehmer oder andere Menschen, die Erfolg haben wollen.

AoA: Wenn sich Manager oder Politiker vor Bildern oder Gemälden fotografieren lassen, dann häufig im Versuch, die Eigenschaften dieses Bildes oder Gemäldes auf sich zu übertragen. So ähnlich haben Sie das einmal formuliert. Würden Sie uns das bitte an einem Beispiel erklären?

Wolfgang Ullrich: Gerne. Wenn sich ein Manager oder Politiker zum Beispiel vor einem abstrakt expressionistischen Gemälde ablichten lässt, signalisiert er, sich damit zu identifizieren. Er will dann zum Beispiel als impulsiv, energisch oder auch spontan und flexibel wahrgenommen werden.

AoA: Gestehen Sie dem Künstler, der das originäre Werk erschaffen hat, dann auch diese Eigenschaften zu – oder ist es etwas, das dem Werk eigen ist?

Wolfgang Ullrich: Das kann je nach Situation sehr unterschiedlich sein. Natürlich gibt es Fälle, bei denen es zu einer gewissen Deckung kommt. Es gibt Freundschaften zwischen Künstlern und Unternehmern, die sich vielleicht daraus ergeben, dass beide eine mentale Verwandtschaft haben. Doch es gibt viele Fälle, in denen das anders ist. Formen konstruktivistischer Kunst werden etwa gerne eingesetzt, um dem Manager zu attestieren, er wäre rational und analytisch. Allerdings gibt es konstruktivistische Künstler wie zum Beispiel Richard Paul Lohse, die von ihrer Einstellung her kommunistisch waren. Diese Künstler haben die Bilder geschaffen, weil sie ein universales Idiom schaffen und so soziale Ungleichheit überwinden wollten. Die konnten sich nicht vorstellen, dass ihre Werke einmal dazu dienen sollten, die ohnehin schon statusreichsten Menschen der Gesellschaft weiter zu schmücken und so die soziale Ungleichheit weiter zu verstärken. Diese tragischen Fälle gibt es somit genauso.

AoA: Was stört Sie am allermeisten bei dem ganzen Gerede über Kunst und Wirtschaft?

Wolfgang Ullrich: Mich stört es vor allem, wenn zu pauschal von der Kunst die Rede ist und man nicht unterscheidet, um welche Form von Kunst es sich denn jeweils handelt. Als ich einmal über die Rolle von Kunstwerken in Unternehmen geschrieben habe, sind mir reihenweise Aufsätze und Doktorarbeiten begegnet, die davon handelten, man sollte Kunstwerke in die Büros bringen. Dadurch sollten die Mitarbeiter dann zum Beispiel kreativer oder entscheidungsfreudiger werden. Doch in diesen Arbeiten wurde überhaupt nicht differenziert, welche Kunst dies erreichen sollte oder könnte. Wird dieser Effekt von einem abstrakten Bild genauso erreicht wie durch ein gegenständliches Werk? Oder kann das ein zeitgenössisches Bild besser als ein altes Bild? Eignet sich überhaupt ein Bild oder würde sich nicht ein Theaterstück besser eignen? Wenn man nun so pauschal über Kunst spricht, dann hege ich auch einen Ideologieverdacht. Somit hat jemand einen gewissen Begriff von Kunst und wendet diesen pauschal an.

AoA: In diesem Fall handelt es sich vielleicht um ein gutes Einzelbeispiel, das zum allgemeinen Glaubenssatz verkommt?

Wolfgang Ullrich: Ja, genauso ist das. Man muss viel mehr auf den Einzelfall schauen. Ansonsten stört mich aber auch, dass so viel im Verhältnis von Kunst und Wirtschaft verklärt wird. Es wird nur nach Ähnlichkeiten gesucht, wodurch zum Beispiel der Unternehmer als Dirigent bezeichnet wird. Es wäre aber auch mal produktiv, Unterschiede hervorzuheben. Man sollte somit mal die Frage stellen, was es heißt, dass der Unternehmer für so viele Mitarbeiter verantwortlich ist und die meisten Künstler dies in der Regel nicht sind. Nehmen wir zum Beispiel eine berühmte Rede von Jürgen Ponto aus den frühen 1970ern, in der er ausgiebig und einseitig die Analogien zwischen Künstlern und Managern beschwor. Ich meine gar nicht, dass falsch ist, was er gesagt hat, aber man kann nun nicht sagen, dass sie bis zum Verwechseln ähnlich sind und jeder Unternehmer auch ein Künstler und jeder Künstler auch ein Unternehmer ist. Es gibt immer noch Unterschiede, die wir nicht verwischen sollten.

AoA: Um welche Unterschiede handelt es sich dabei?

Wolfgang Ullrich: Die Abhängigkeiten sind bei einem Unternehmer im Allgemeinen größer. Das muss man aber gar nicht nur negativ beschreiben. Wenn ein Unternehmer soziales Gespür hat, setzt er es sicher auch zugunsten der Wünsche der Kunden ein. Für mich ist es aber so, dass ein Unternehmer diese Fähigkeit notwendig braucht, ein Künstler hingegen nicht. Selbstverständlich zeugen beide „Produkte“ von diesem Unterschied, und ich finde es auch wichtig, dass es beides auf der Welt gibt. Es muss Produkte geben, die genau nach den Ansprüchen der Kunden orientiert sind, aber es muss auch die Produkte geben, die nach den Ansprüchen des Produzenten erstellt sind. Man benötigt beides, und vor allem braucht man auch Dinge, die man vielleicht zuerst nicht versteht oder nicht mag. Erst dann setzt man sich damit auseinander. Diesen Unterschied würde ich gerne hochhalten.

AoA: Somit wäre eine gewisse Zurücknahme der Individualität, der Persönlichkeit des Unternehmers zu Gunsten der Bedürfnisse der Kunden wünschenswert?

Wolfgang Ullrich: Dennoch kann das auch wieder eine Art von Individualität sein. Durch seine kreative Art kann ein Unternehmer auch eine Beziehung zum Kunden herstellen. Dennoch kann man natürlich auch den Kunden ein wenig in seinen Wünschen manipulieren. Erst letzte Woche hatte ich ein Gespräch mit einem sehr erfolgreichen Unternehmer aus dem Medienbereich. Dieser hat mir erzählt, dass er auf jede Autobahntoilette gehe, um zu hören, was die Leute so alles reden. Auch deshalb ist er erfolgreich geworden. Sein Credo besteht daher darin, dass man immer den Leuten zuhören muss und überall hingehen muss, wo man über deren Sorgen und Wünsche erfährt.

AoA: Das ist dann ganz ähnlich, wie beim Amancio Ortega, dem Gründer von Zara. Er meinte einmal, dass er nur so erfolgreich sei, weil er den Leuten konsequent auf den Mund schauen würde.

Wolfgang Ullrich: Richtig. Gerade wenn man die Massenmärkte erreichen will, ist diese Fähigkeit sehr wichtig. Ich bewundere die Leute, die sich nicht zu schade sind, auf jede Autobahntoilette zu gehen, um dann die richtigen Schlüsse ziehen zu können.

AoA: Handelt sich dabei demnach um ethnografische Feldforschung, die diese Leute betreiben?

Wolfgang Ullrich: Genau, so ist das. Man muss daraus lernen können, was man erfährt. Es ist somit ein spezifisches Gespür, das diese Leute haben. Dadurch können sie genau die richtige Modelinie, wie bei Zara, herausbringen, oder wissen genau, welches Magazin neu zu gründen ist.

AoA: Machen Sie denn auch selber Kunst?

Wolfgang Ullrich: Nein. Ich schreibe Bücher und halte Vorträge. Das ist meine Art von gestalterischem Tun und dadurch bin ich gefühlt den ganzen Tag kreativ.

AoA: Steht da auch der Wunsch hinter, dass es lesbar ist und gelesen werden zu wollen?

Wolfgang Ullrich: Ja. Daher wüsste ich nicht, mit welch anderem Medium ich mich besser artikulieren könnte als mit dem Medium, welches ich bereits für mich gefunden habe. Ich käme mir amputiert vor, wenn ich Kunst machen sollte. Einfach, weil ich mich nicht auf demselben Niveau ausdrücken könnte.

AoA: Wie kam es dazu, dass Sie sich von Ihrer Professorenstelle abwandten und selbstständig wurden?

Wolfgang Ullrich: Nun, einerseits ist es als Professor natürlich sehr bequem. Man ist lebenslang abgesichert und muss sich somit keine Gedanken mehr machen. Andererseits kann diese Bequemlichkeit auch müde machen. Zwar war das nicht die große Schwierigkeit bei mir, aber sie war dennoch da. Wenn man diesen Beruf länger mit einer gewissen Ernsthaftigkeit ausfüllt, dann hat er zudem noch andere Seiten. Man hat so viele andere Rollen und Aufgaben zu erfüllen – vom Gutachtenschreiben über das Repräsentieren bis zum Beantragen von Drittmitteln –, dass ich nur noch ein paar Wochen im Jahr zu dem gekommen bin, weshalb ich eigentlich mal ursprünglich in die Geisteswissenschaften gegangen bin. Gleichzeitig war aber auch keine Änderung dieser Situation absehbar. Meine Entscheidung wurde zudem dadurch begünstigt, dass ich nie wirklich die Laufbahn an einer Hochschule angestrebt habe. Ich bin da eher hineingerutscht und musste nie ein Opfer dafür bringen, um eine Professur zu erhalten. Jenen, die so ein Opfer bringen mussten, fällt es vermutlich schwerer, eine Professur wieder aufzugeben. Wenn einem aber etwas leicht zufliegt, dann gibt man es aber auch leicht wieder ab. Es war aber auch ein paar Jahre sehr produktiv. Dadurch, dass ich die Professur hatte, konnte ich Sachen machen, die ich alleine nicht machen konnte. Mit Studierenden zusammen habe ich zum Beispiel große Ausstellungen gestaltet. Doch die Lust wieder mehr Bücher zu schreiben, eigenverantwortlich zu arbeiten und etwas allein durchzuziehen, ohne abhängig von Dritten zu sein, war mir dann doch wieder wichtiger.

AoA: Da ist er wieder, der Weg des Künstlers – und ein schönes und passendes Ende für unser Gespräch. Vielen Dank für Ihre Zeit!

Wolfgang Ullrich: Vielen Dank.

Info

Ein Beitrag von Benjamin Stromberg & Dirk Dobiéy.
Das Interview wurde am 03.09.2018 von Dirk Dobiéy durchgeführt.
Bildquelle: Wolfgang Ullrich.

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