Unsere Arbeits- und Lebensrealitäten sind von Widersprüchen durchzogen. Es gibt in ihnen keine Eindeutigkeit, keine Geradlinigkeit, keine unumstößliche Verlässlichkeit. Sich fortwährend um Balance zu bemühen, muss deswegen zum bestimmenden Wesenszug unserer Gesellschaft, unserer Organisationen und jedes Einzelnen werden.
Im Künstlerischen finden sich unzählige Hinweise darauf, wie das gelingen kann. Abstrahiert man vom Individuellen, dann lassen sich die Elemente einer künstlerischen Haltung und künstlerischer Arbeitsweisen in andere Bereiche übertragen. Dabei ist es unerheblich, welchen Gegenstand die Arbeit eines Menschen hat, ob er singt, dichtet, malt oder ob er Software entwickelt, Menschen ausbildet, einem Handwerk nachgeht. Wenn künstlerisches Gestalten auch abseits der Kunst möglich ist, dann kann das Ergebnis auch ein Produkt, eine Erkenntnis und selbst so etwas Weitreichendes wie eine soziale Reform sein.
Von Komplexität zu Einfachheit
Menschen reagieren auf Komplexität oftmals mit dem Wunsch, Dinge einfacher machen zu wollen. Dabei übersehen sie, dass man Kompliziertem zwar mit Vereinfachung begegnen kann, komplexe Situationen aber nach Vielfalt verlangen.
Begegnet man Komplexität mit Vielfalt, kann dabei echte Einfachheit entstehen. Denn durch das vielfältige Zusammenwirken von Dingen entstehen nicht nur neue Verbindungen und Abkürzungen, sondern Chancen, bislang Unvorstellbares zu entdecken. Vielfalt ermöglicht es, elegante, wirksame, nützliche, man könnte sagen, multivalente Lösungen zu entwickeln, die nicht etwa nur einer von vielen konkurrierenden Zielstellungen den Vorrang geben, sondern in der Lage sind, mehrere gleichzeitig zu berücksichtigen.
Der künstlerische Zugang zur Vielfalt heißt Neugier. Künstler:innen gehören zu den Menschen, deren Neugier auffallend ausgeprägt ist. Die künstlerische Haltung ist von einer Neugier geprägt, die oftmals verschwenderisch ist. Sie lässt Raum für glückliche Fügungen. Sie liefert keine schnellen Antworten. Vielmehr treibt sie die eigene Wahrnehmung von einer zur nächsten Frage und verhilft so Stück für Stück zu mehr Klarheit.
Wahrnehmen bedeutet für Künstler: innen, ihre Welt unvoreingenommen zu erforschen, zielgerichtet oder im Vorbeigehen Offensichtliches oder Verborgenes zu entdecken. Dabei geht es nicht allein darum, Informationen sachlich rational zu erfassen, sondern vielmehr auch darum, diese intuitiv und emotional zu bewerten. Wahrnehmen bedeutet, Eindrücke und Dinge zu entdecken und zu sammeln. Es bedeutet zu beobachten, zuzuhören, sich auszutauschen und alles unter Einbeziehung aller Sinne in sich aufzunehmen.
Von Dynamik zu Bewusstsein
Im Versuch, der zunehmenden Dynamik unserer Welt zu begegnen, gelten Entschleunigung und Achtsamkeit als Mittel der Wahl, um Balance zu finden und Bewusstsein zu erreichen.
Die künstlerische Arbeit kennt einen anderen Weg: Künstler:innen bringen zu jeder Zeit alles in ihre Arbeit ein – ihr Wissen und Können, ihre Kreativität und vor allen Dingen ihre Leidenschaft. Diese Leidenschaft ist auf einen Zweck gerichtet. Sie führt dazu, dass wir das, was notwendig ist, mit Entschlossenheit, Mut und Ausdauer verfolgen, einen persönlichen Standpunkt haben und diesen vertreten. Sie hilft uns, das eigene Ego zu überwinden, um etwas Neues zu schaffen. Der Weg zu dieser Leidenschaft führt über die Reflexion.
Konkret heißt das, zu analysieren und zu abstrahieren, sich frei zu machen von dem, was gewesen ist, die eigene Perspektive zu verändern, Ideen zu generieren und im Austausch mit anderen weiterzuentwickeln und durch ständiges Hinterfragen sicherzustellen, sich niemals zu sicher zu sein. Dabei zielt alles darauf, zu einem besseren Verständnis zu gelangen und sich einer Sache so zu verpflichten, dass dadurch Entscheidungen nicht nur möglich sondern zwingend werden. Die Reflexion ist zugleich der Ausgangspunkt für die Vermittlung zwischen Werk und OEuvre, Wert und Wirkung, Sinn und Sachlichkeit, Position und Transzendenz, Arbeit und Leben. Damit ist sie der Ort, an dem sowohl die Sinnhaftigkeit, also der Bezug des Werkes zur Welt, als auch die Selbsterkenntnis, also die persönliche Beziehung zur Welt, verhandelt werden.
In dynamischen Umgebungen, aber nicht nur dort, wird die Sinnhaftigkeit des individuellen Handelns demnach auch zur Voraussetzung für den Erhalt der Organisation, in Wirtschaftsunternehmen also zur Voraussetzung für deren Wertschöpfung.
Von Ungewissheit zu Gewissheit
Organisationen versuchen Ungewissheit und Unsicherheit beherrschbar zu machen, indem sie analysieren und sich Informationen beschaffen, um auf dieser Grundlage genauer zu planen und zu steuern. Doch je größer die Informationsbasis, desto schwieriger wird es, sie zu bewerten.
Will man Menschen in die Lage versetzen, im Umgang mit dem Unplanbaren noch einen sinnvollen Beitrag leisten zu können, bleibt nur ein Weg: Man muss ihnen mehr Freiraum und Autonomie geben – Voraussetzungen, die in besonderem Maß für das Künstlerische gelten. Künstler:innen sind geübt im Umgang mit Gegensätzen, Ungereimtheiten, Diskrepanzen, Mehrdeutigkeit, Ambiguität, kurzum im Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit jeder Art. Das hilft ihnen dabei, die Welt nicht nur wahrzunehmen, wie sie ist, sondern sie auch so zu gestalten, wie sie sein soll.
Sie lassen sich auf Ungewissheit ein, gehalten von Zuversicht. Sie vertrauen in sich selbst. Das äußert sich auch darin, dass sie sich selbst erlauben zu handeln, zu gestalten, Dinge zu entwickeln, ohne mit letzter Sicherheit zu wissen, ob sie über die dafür notwendigen Fähigkeiten verfügen und zu welchem Ergebnis sie gelangen werden.
Es gibt viele Begriffe, mit denen Künstler: innen beschreiben, was sie tun, um ihre Werke zu gestalten: Sie experimentieren, entwerfen, proben, komponieren, improvisieren und vieles mehr. Letztendlich stehen alle diese Begriffe für ein und dasselbe: Den Weg des Spiels, um im Vorgang des Gestaltens Gewissheit zur erlangen, um absichtsvoll etwas Neues entstehen zu lassen, das so nicht vorhersehbar war.
Von Volatilität zu Stärke
In Organisationen sieht man Krisen meist als Ausnahmesituation, auf die man mit Ausnahmen reagiert. Solange Krisen nur selten auftreten und überschaubar bleiben, kann dieses Vorgehen funktionieren. Doch wenn der Überblick droht verloren zu gehen, wenn über längere Zeit Unberechenbarkeit und Volatilität herrschen, wenn das, was wir als Krise wahrnehmen, längst zum Normalzustand geworden ist, kann die kurzfristige Intervention nicht mehr helfen.
In diesem Zusammenhang können Organisationen insbesondere von Künstler:innen lernen. Denn sie sind Expert:innen im Umgang mit unvorhergesehen Ereignissen. Sie wissen um die Notwendigkeit von Routine und Beharrlichkeit, Kritik und Dissens, Fehler und Scheitern, Zweifel und Krise, um Neues entstehen zu lassen und die eigene Widerstandsfähigkeit zu stärken. Im gleichen Kontext ist die Aufführung zu verstehen, die für Künstler:innen mehr Frage als Antwort ist, die als fortwährendes Beinahe, als ein Loslassen und nicht als perfekter Endzustand zu verstehen ist und durch die jede künstlerische Tätigkeit einen erlebbaren externen Bezug erhält.
Damit Menschen in Organisationen eine vergleichbare Resilienz aufbauen können, müssen sie die Möglichkeit haben, ähnlich tiefgehende Erfahrungen zu machen. Es geht also nicht darum, Organisationen resilienter zu machen, indem man versucht, die Zukunft vorauszusagen und drohendes Missgeschick abzuwenden. Will eine Organisation Stärke entwickeln, muss sie beweglich sein. Dafür aber müssen sich die Menschen bewegen.
Beweglichkeit kommt dadurch zustande, dass man sein Werk, seine Arbeit ständig in Bezug zu anderen bringt, der Kritik aussetzt, neue Energie aufnimmt, um sich weiterzubewegen, weiterzuentwickeln und darüber dann auch Widerstandsfähigkeit zu erlangen.
Gleichzeitigkeit von Gegensätzen
Künstlerisch handelnde Menschen – und das schließt ausdrücklich alle Menschen ein, die nach einer Haltung streben, die sich in Neugier, Leidenschaft, Zuversicht und Resilienz ausdrückt – leiten aus Herausforderungen der Gemeinschaft individuelle Arbeitsaufträge an sich selbst ab. Sie bilden Fähigkeiten aus, die lange Zeit eine untergeordnete Rolle spielten. Zu ihnen gehören Wahrnehmungsvermögen, Reflexionsfertigkeit, spielerische Gestaltungsfähigkeit und Aufführungskompetenz. Organisationen, die in Zukunft erfolgreich sein wollen, sind auf künstlerisch handelnde Menschen angewiesen. Um ihre Fähigkeiten voll zur Entfaltung zu bringen, müssen sie jede Art von Einseitigkeit überwinden. Sie müssen ein Umfeld schaffen, das Vielfalt, Sinnhaftigkeit, Freiraum und Beweglichkeit in allen Bereichen und letztendlich auch die Gleichzeitigkeit von Gegensätzen ermöglicht.
Wenn uns das gelingt, befinden wir uns im Zeitalter der Künstler:innen!
Das Age-of-Artists-Framework als Kunstwerk
Radierungen von der Künstlerin Verena Wald
Das Age-of-Artists-Framework im Einsatz
In den vier Hauptkapiteln unseres Buches Creative Company beschreiben wir, wie man – ob als Individuum oder Organisation – im Umgang mit Komplexität durch Wahrnehmung, Neugier und Vielfalt zu Einfachheit, im Umgang mit Dynamik durch Reflexion, Leidenschaft und Sinnhaftigkeit zu Bewusstsein, im Umgang mit Ungewissheit durch Spiel, Zuversicht und Freiraum zu Gewissheit und im Umgang mit Volatilität durch Resilienz und Beweglichkeit zu Stärke gelangen kann.