Interview
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Dirk Dobiéy & Benjamin Stromberg

Es gibt keine Punkte. Was es gibt, ist die Verbindung

Stephen Nachmanovitch über Improvisation als Mittel zur Überwindung von Gegensätzen

An einem sonnigen Freitag Nachmittag finde ich mich wieder auf einer belebten Straße im Zentrum des Prenzlauer Bergs in Berlin. An meiner Seite der niederländische Musiker Rik Spann und mein heutiger Gesprächspartner Stephen Nachmanovitch, der hier Quartier bezogen hat, während er in der Stadt ist um einen seiner beliebten Improvisationsworkshops durchzuführen. Rik und ich sind zwei der Teilnehmer. Wir drei kennen die Gegend nicht und entscheiden uns für ein italienisches Restaurant einige Schritte weiter, denn schließlich müssen auch Künstler essen. Unser Umfeld ist laut und betriebsam.

Über eine Reflexion zu Pfannen, Töpfen und den Workshop navigiert Nachmanovitch direkt in die Kunst hinein: „Wahrzunehmen, dass man Dinge sagen kann, Dinge tun kann, spielen kann, hat einen Effekt auf die Welt. Je mehr man entdeckt und sich der Tatsache hingibt, dass die Welt miteinander verbunden ist, dass alle Sinne miteinander verbunden sind und dass Kreativität nicht bloß die Sache einer Idee ist, die im Sinne eines materiellen Objekts in das Gehirn dringt und anschließend durch einen Stift oder einen Computer gepresst wird, aber hingegen zu verstehen, dass wir in einem Stadium der ständigen Interaktion mit der Welt sind: Dies ist der Pfad in die Kunst hinein. Die Künste sind der Pfad. Visuelle Kunst oder auch Musikaufnahmen sind Spuren und der Beweis des sensorischen Bewusstseins, das wir alle besitzen.“

Lucky Lemon – Impression from Stephen Nachmanovitch’s Berlin Workshop

Stephen Nachmanovitch ist der lebende Beweis, eine persönliche Geschichte von Verbindungen. Er ist Musiker, Autor, Computerkünstler und Pädagoge, der einst seinen Werdegang als Psychologe begann. Man könnte annehmen er sei deshalb ein Meister darin all diese verschiedenen Punkte miteinander zu verbinden. Für Nachmanovitch ist dieser Gedanke jedoch ein Trugschluss: „Punkte miteinander zu verbinden, ist eine irreführende Metapher, denn sie impliziert, dass es verschiedene Punkte gibt. Dies impliziert, dass diese Punkte existieren. Aber es gibt keine Punkte. Was es gibt, ist die Verbindung“, sagt er. Und daher gibt es für ihn auch kein finales Produkt. „Es gibt kein Ergebnis oder Output. Sicherlich gibt es ein Buch, das man als materielles Objekt in die Hand nehmen kann. Aber es ist alles ein Prozess.“

Was aber ist der Grund für den Prozess wenn es nicht ein Ergebnis ist? Geht es vielleicht darum eine Balance herzustellen? Nachmanovitch deutet auf den beschäftigten Kellner, der uns eben erst eine Pizza brachte, und antwortet: „Gleichgewicht bewegt sich beständig. Wenn man denkt Gleichgewicht sei ein Stadium, dann könnte man sagen: „Dies ist der Nullpunkt, wo Zulauf und Abfluss übereinstimmen“ Aber er bewegt sich, er ist ein menschlicher Körper in ständiger Bewegung und würde er plötzlich anhalten, dann würden die Teller auf den Boden fallen.“

Loose Ends – Impression from the Berlin Workshop

Im Gespräch führt er diese Idee noch ein wenig fort: „Jeder technische Bereich kennt das erfahrungsbasierte Lernen mit Hilfe dezidierter Gegensätze. Wenn Sie eine Kamera bedienen, gibt es Licht und Schatten, eine Auswahl an Blenden, Verschlussgeschwindigkeiten und so weiter. Und all diese Kompromisse sind Teil der physischen und mathematischen Welt und deshalb müssen wir über diese Kompromisse Bescheid wissen. Sogar ein Feld wie die Buchhaltung ist eine Manifestation dieser Kompromisse in der physischen Welt. (…) Diese Gegensätze können nicht aufgelöst werden, sondern wir sollten an ihnen teilhaben, so anmutig wir nur können. Genau dann erleben wir, dass der künstlerische Ansatz auf die Welt der Wirtschaft trifft.”

Das Geheimnis der Improvisation besteht für Stephen Nachmanovitch darin, mit allen Informationen umzugehen, die in einem bestimmten Augenblick, an einem bestimmten Ort und unter Einbeziehung all unserer Sinne auf uns einströmen. „Improvisation ist Musik, die nicht älter als fünf Minuten ist”, sagte er uns im Gespräch. „Ich improvisiere ein Musikstück und ich habe keine Vorlage, kein Muster, keinen Plan. Mein Körper, mein Geist, die Umgebung und die Menschen mit denen ich zusammen bin, sind die Vorlage, das Muster und der Plan. Diese strukturellen Bestandteile wurden zu allen Zeiten eingebunden.”

Musician Frédérique Trunk at the Berlin Workshop

Aber wie geht man mit den zwangsläufigen Widersprüchen um, die das Balancieren von Gegensätzen letztlich auch bedeutet? „Wir müssen uns darauf einigen, dass man Spannungen und Widersprüche nicht auflösen kann. Viel eher müssen wir mit ihnen so gut es geht umgehen können. Dies ist der Punkt, wenn der künstlerische Ansatz auf die Wirtschaft trifft“, sagt Nachmanovitch. „Die Menschen müssen etwas über die Erfahrungen der anderen wissen”, sagte uns der Improvisationsgeiger Stephen Nachmanovitch. „Wenn es eine Bestimmung für die Kunst gibt, dann ist es Menschen zu ermöglichen, dass man Erfahrungen nicht zu 99,9 Prozent teilen muss und dennoch in die Erfahrungen anderer eingebunden werden kann durch Geschichten, Filme und durch Kunst.”

Wenn es darum geht Improvisation im Unternehmenskontext zu ermöglichen empfiehlt Nachmanovitch drei Dinge, die möglicherweise nicht so leicht umzusetzen sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen: „Das Erste ist: Nimm einen tiefen Atemzug und gestehe dir selbst etwas Zeit zu. Das Zweite ist einen physischen Raum für die Menschen zu schaffen, der frei ist, und wo miteinander gesprochen werden kann. Das Dritte ist den Menschen einen allgemeinen Freiraum zu ermöglichen, sie nach Hause gehen zu lassen. Sie gehen nach Hause und haben ihr unabhängiges Leben.“

Das komplette Interview mit Stephen Nachmanovitch in englischer Sprache

Info

Ein Beitrag von Dirk Dobiéy & Benjamin Stromberg.
Das Interview wurde am 09.06.2017 von Dirk Dobiéy durchgeführt.
Bildquelle: Dirk Dobiéy.

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