Interview
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Claudia Helmert

Von Erfahrung zu Kreativität

Interview mit dem Neurobiologen Gerald Hüther

Gerald Hüther ist Neurobiologe und Autor. Er studierte Biologie in Leipzig und wurde dort auch promoviert. 1988 habilitierte er sich im Fachbereich Medizin an der Georg-August-Universität Göttingen und erhielt die Lehrerlaubnis für Neurobiologie. Professor Hüther hat eine Vielzahl bekannter Bücher veröffentlicht, zuletzt „Etwas mehr Hirn, bitte“ in dem er einer Gesamtschau gleich einen Überblick über seine gesammelten Erfahrungen und Erkenntnisse zur persönlichen Sinnentfaltung, individuellen Kreativität und der Lust am gemeinsamen Gestalten. Darüber was wir von der Hirnforschung über diese Themen lernen können haben wir uns mit Gerald Hüther unterhalten.

Von der Erfahrung zur Haltung

Der Begriff der künstlerischen Haltung ist uns in unseren Gesprächen häufig begegnet. Aus dieser Entdeckung resultiert eine zentrale Frage: Ist Haltung angeboren oder kann sie entwickelt werden? Daraufhin erklärt Hüther „Das Gehirn ist zeitlebens plastisch umbaubar und deshalb ist es auch möglich bis ins hohe Alter neue Vernetzungen aufzubauen. Haltungen sind etwas sehr Kompliziertes, weil sie durch Erfahrungen erworben werden.“ Dem fügt er hinzu, dass Erfahrungen sowohl kognitiven als auch emotionalen Gehirnregionen entspringen. Diese Haltungen seien etwas ganz Entscheidendes, so der Neurobiologe, „denn sie lenken die Wahrnehmung und bilden die Grundlage von Entscheidungen.“

Haltungen entwickeln sich also im Allgemeinen aus Erfahrungen. Dieses Konzept ließe sich nun, gemäß Hüther, auch auf den Bereich der Neugier, bzw. Entdeckerlust wie er es bevorzugt nennt, anwenden: In diesem Zusammenhang spielt vor allem das Wiederherstellen dieser Lust eine Rolle: „Entdeckerfreude geht durch negative Erfahrungen in der Beziehung zu anderen Personen verloren: Beim Verfolgen der eigenen Interessen und beim eigenen Entdecken. Sie wird einem also geraubt, weil jemand anderes sich nicht darüber freut. Meist geht es darum, dass jemand anderes vorschreibt was man machen soll und die Vorstellungen, Maßnahmen oder Bewertungen so von anderen übernommen werden. Dadurch wird diese Entdeckerfreude blockiert. Was man nun zu jeden Zeitpunkt des Lebens machen kann, ist einem Menschen zu helfen eine neue, andere Erfahrung zu machen, die ihm deutlich macht, dass es Spaß machen kann, etwas Neues zu entdecken. Dadurch würde die von Anfang an bestehende positive Kopplung des Entdeckens an die Lust und an die Freude, wieder gestärkt und die erst nachfolgend entstandene Kopplung von Entdeckerfreude an Angst und hemmende Strukturen wird überlagert.”

Als Beispiel hierfür gibt es Künstler, die Kunstwerke zusammen mit Menschen entwickeln, die in kreativen Belangen unerfahren sind – ohne Zwang, sondern mit einem „Erfahrungsraum“, wie es Hüther nennt. Die Person bekäme, seiner Meinung nach, wieder Lust sich mit etwas auseinanderzusetzen und zu explorieren. „Die Vereinigung der spielerischen mit der künstlerischen Komponente, sodass die Person wiederentdeckt, was sie alles kann, ist ein guter Weg.“ Für Erwachsene bietet ganz besonders Kunst so einen Bereich, der „die Möglichkeit bietet sich nochmal in einem druckfreien Erfahrungsraum einer bestimmten Beschäftigung oder einem Erkenntnisprozess hinzugeben.“

Von der Angst zur Angstfreiheit

Im Gegensatz zu diesen losgelösten Handlungen sind auch Ängste relevant, sodass eine Befreiung von Angst vielleicht nicht antrainiert, aber durch positive bzw. angenehme Erlebnisse gefestigt werden kann: „Die erste große Ressource gegen die Angst ist entsprechend das Vertrauen in sich selbst.“ Allerdings kann es auch sein, „dass man mit seinen eigenen Kompetenzen nicht mehr weiterkommt. Dann ist es gut, wenn die zweite Ressource noch verfügbar ist, die sich aus dem Vertrauen in andere Personen speist“. Ist diese Quelle auch nicht verlässlich, so führt der Neurobiologe an, gäbe es noch den Glauben daran, das alles wieder gut wird. „Man könnte auch sagen, dass man in dieser Welt gehalten wird. Dieses Vertrauen ist unverrückbar, wenn man es einmal entwickelt hat, aber in unserer heutigen Gesellschaft ist  es mittlerweile fast allen Menschen weitgehend  verloren gegangen.  […] Wenn man diese drei Vertrauensressourcen besitzt, dann ist die Chance äußerst hoch, dass man eigentlich gar nicht mehr scheitern kann.“ Dieser Balancezustand führt letztlich dazu, dass die Personen nicht nur angstfreier sind, sondern auch Probleme eher als Herausforderung, an der man wachsen kann, und nicht als Hindernis, wahrnehmen.

Vom der Erfahrung zur Kreativität

Weiterhin berichtet Gerald Hüther über die Lateralisierung der Gehirnhälften und den damit bedingten Geschlechterunterschieden, die aber in Bezug auf die Kreativität kaum Anklang finden:

„Richtige Kreativität findet dann statt, wenn etwas wirklich Neues in die Welt gelangt. Die kreativen Durchbrüche, wie z.B. die Erfindung der Dampfmaschine, sind niemals durch lineares Weiterdenken gelungen und lineares Weiterdenken geht zur Not auch unter Druck. Aber diese kreativen Durchbrüche findet man wirklich nur unter druckfreien Bedingungen und das liegt daran, dass es  für solche Art von Innovationen oder Kreativität erforderlich ist,  sehr viele unterschiedliche Wissens- und Erfahrungsinhalte, die im Gehirn alle lokal abgespeichert sind, gleichzeitig aktivieren. Es muss also möglichst viel im Gehirn ‘eingeschaltet’ sein […] Wobei man natürlich sagen muss, dass auch dies nicht wirklich neu ist, sondern sich etwas bereits vorhandenes nur neu verknüpft hat. Es ist also eine neue Kombination von etwas, das davor getrennt gewesen ist.“

Innovative Gedanken werden also maßgeblich von Konnektivität in allen möglichen Richtungen und letztlich auch zwischen alten und neuen Erfahrungen bestimmt, das heißt, dass für Kreativität bestimmte Voraussetzungen, nämlich den genannten Verknüpfungsmöglichkeiten, eine Vielfalt von Erfahrungen, erforderlich sind.

Es geht nun darum für Betriebe Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Mitarbeitern angemessene Erfahrungen vermitteln, um damit eine zeitgemäße Haltung hervorzurufen – ohne „Reibungsverluste“ bzw. „Ressourcenverschwendung“ und ferner mangelnden Leistungen entstehen zu lassen.

Es gilt also die eindimensionale Profitorientierung zu überwinden und eine betriebliche Zielvielfalt zu ermöglichen: „Das heißt, wenn sich die Art und Weise, wie Mitarbeiter miteinander in Beziehung treten oder wie Führungskräfte mit ihren Mitarbeitern zusammenarbeiten  verbessert, entsteht als Nebenprodukt Leistung. Was wir im Augenblick immer versuchen, ist die Fokussierung auf Leistung und produzieren als Nebenprodukt gestörte Beziehungen. Genau das ist das Dilemma, aus dem wir den Ausweg nicht finden.“ Allerdings wird in diesem Zusammenhang nicht vorgesehen, Menschen wie Objekte zu behandeln, die Vorstellungen, Zielen, Absichten, Bewertungen, Maßnahmen usw. dienen. „Das ist eine Beziehungskultur, die im Grunde genommen nur noch stagniert und nur noch die Fähigkeit hervorbringt entweder andere noch besser zu Objekten zu machen, oder sich noch besser aus dieser Art von Objektivierung  zu retten. Diese Beziehungskultur kann jedoch etwas  nicht hervorbringen, was für jeden evolutionären Prozess unumgänglich ist und das ist Koevolution und Kokreativität. Die Dinge müssen sich miteinander entwickeln, sonst kann sich auch nichts von selbst organisieren […] Da haben sie meiner Ansicht nach den Schlüssel für fast alle Probleme, die wir im Augenblick in unserer Gesellschaft haben.”

Potenzialentfaltung durch Selbstorganisation und Gemeinschaft

Ein kritischer Erfolgsfaktor für gemeinschaftliches Gestalten stellt für Hüther die Selbstorganisation dar, die allerdings nur durch ein eigenständiges „umdenken von unten“ hervorgerufen werden kann und nicht durch auferlegte Anweisungen. “Deshalb ist die Hoffnung, dass irgendjemand kommt und uns rettet, wieder nur eine Illusion. In der Arbeit als Team kann man versuchen eine solche kleine Gemeinschaft zu bilden in der man das lebt, was man für wichtig hält. Das nenne ich dann eine Potenzialentfaltungsgemeinschaft, in der man eine Art des Umgangs miteinander entwickelt, die dadurch gekennzeichnet ist, sich gegenseitig nicht mehr als Objekte zu benutzen. Auf diese Weise können Inseln geschaffen werden, aus denen besondere Leistungen erwachsen. Diese besonderen Leistungen würden dann nach außen hin eine Attraktivität für diese Art von Beziehungskultur schaffen, die dazu führt, dass sie sich auch ausbreitet.”

Das heißt, eine eigene Bereitschaft muss notwendig vorhanden sein. Hierbei spielt es auch keine Rolle, ob Wissen über die Art und Weise des Beginnens vorliegt – die Intentionalität muss hinreichend groß sein. Ist dies nicht der Fall führt der Weg der Betroffenen zu Therapeuten oder Coaches. „Das ist wieder das Abschieben von Verantwortung für sich selbst, sein eigenes Tun und das Zusammenleben mit anderen Menschen und anderen Lebewesen auf dieser Erde. Keiner ist bereit, die Verantwortung dafür wirklich zu übernehmen. Deshalb suchen wir ständig nach jemandem, der es für uns macht. Es wird aber eine vergebliche Suche bleiben, da keiner kommen wird. Wir haben bereits so viele Instanzen durchprobiert: Den lieben Gott, die Gene und jetzt das Gehirn, aber keiner ist es. Jetzt gehen uns die Instanzen aus und deshalb ist es unvermeidlich, dass wir zu der Erkenntnis kommen, dass wir es selbst machen müssen.“

In diesem Kontext interessierte es uns auch, wie die Digitalisierung in die Geschwindigkeit des Erkenntnisgewinns einwirkt. Bei Prozessen, die auf Ausprobieren, Fehlern und Irrtümer beruhen „führt die Digitalisierung zu einer enormen Beschleunigung aller Prozesse in der Gesellschaft, womit die Defizite der Gesellschaft immer deutlicher werden. Im Kontext der Selbstorganisation bedeutet das, dass Menschen nun zunehmend  schneller begreifen wie sie es nicht machen können. Damit besteht dann die Chance,  es anders zu machen. Wenn es so langsam geht wie bisher wird man auch nicht reagieren.“

Kommunikation führt dazu, dass wir über alle Prozesse in der Welt Bescheid wissen und wir uns davon betroffen fühlen können – dafür allerdings noch keine Lösungsvorschläge produzieren. Es sollte also ein Prozess in die eingeleitet werden, welche „die Art und Weise wie wir zusammenleben verändert.“ Als Kompetenzanforderungen diesbezüglich führt Hüther an: „Was man beobachten kann ist, dass es sehr schwer ist aus solchen Mustern auszubrechen, wenn man es alleine macht. Deshalb wäre es aus neurobiologischer Perspektive viel günstiger,  sich andere suchen mit denen man gemeinsam beschließt es anders zu machen. Dann kann man sich gegenseitig stärken. Unter Umständen kann man auch den scharfen Wind aushalten, der einem draußen in der alten Welt entgegenweht, weil man aus der eigenen Erfahrung mit der betreffenden  Gemeinschaft weiß, dass man auf einem guten Weg ist.“

Angewandt werden Gerald Hüthers Theorien in seiner eigens gegründeten „Akademie für Potentialentfaltung“, bei Personen, die auf Verbesserungen in ihrer Gemeinschaft aus sind. Diesen Interessenten wird ein Research Fellow an die Seite gestellt. Es erfolgt allerdings kein Eingriff in die gesamte Gruppe, sondern nur mit einer einzelnen Person wird gearbeitet. Es geht beispielsweise darum „nur eine Woche auszuprobieren wie es ist, wenn man sich gegenseitig nicht mehr zum Objekt macht.“ Die damit einhergehenden Erfahrungen, werden, wie bereits beschrieben, zu Haltungen, zu Automatismen, zu einer anderen, neueren Kultur. „Man kann die Leistungen, die aus so einer Potenzialentfaltungsgemeinschaft erwachsen, überhaupt nicht absehen. Deshalb hat es auch keinen Sinn im Vorfeld festlegen zu wollen, was man erreichen möchte. Aber die Gewissheit ist da, dass etwas entstehen wird, das hochspannend und vor allem sehr kreativ und innovativ ist.“

Das komplette Interview mit Gerald Hüther online lesen

AoA: Kann man eine Haltung im Laufe des Lebens entwickeln oder verändern?

Gerald Hüther: Das Gehirn ist zeitlebens plastisch umbaubar und deshalb ist es auch möglich bis ins hohe Alter neue Vernetzungen aufzubauen. Haltungen sind etwas sehr Kompliziertes, weil sie durch Erfahrungen erworben werden. Sie stabilisieren und lenken die eigene Wahrnehmung und die eigene Bewertung. Das hat meistens zur Folge, dass man aus diesem Muster nicht mehr entfliehen kann. Theoretisch ist es möglich eine Haltung zu ändern, aber praktisch ist es oftmals äußerst schwer.

AoA: Ist Haltung gleichzusetzen mit dem was Sie als Meta-Erfahrungen beschrieben haben?

Gerald Hüther: Ja, Meta-Erfahrung wäre nur der wissenschaftliche Begriff für das, was wir in der Umgangssprache Haltung nennen. Haltung ist ein relativ schwieriger Begriff, es ist auch nicht so, dass jede Haltung automatisch eine gute Haltung ist. An dieser Stelle wäre es lohnenswert darüber nachzudenken, was man überhaupt als richtige Haltung bezeichnen kann.
Erfahrungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie unter die Haut gehen. Das heißt sie haben immer eine emotionale Komponente. Im Frontalhirn wird ein emotionales Netzwerk, das stärker mit der rechten Gehirnhälfte und auch stärker mit den tiefer liegenden emotionalen Bereichen verbunden ist, aktiviert. Gleichzeitig wird auch immer ein kognitives Netzwerk aktiviert, das auf der linken Seite liegt, wo sich auch das Sprachzentrum befindet. Diese beiden Netzwerke werden in einer Erfahrungssituation, die einem unter die Haut geht, immer gleichzeitig aktiviert. Sie koppeln sich aneinander und so entsteht eine kognitiv-emotional gekoppelte Erfahrung. Wenn man mehrere Erfahrungen im selben Kontext macht, dann entsteht daraus eine Haltung. Dieser Vorgang spielt sich nicht bewusst ab. Es ist gewissermaßen ein ganzes Bündel von ähnlichen Erfahrungen, das als Meta-Erfahrung im Gehirn abgespeichert wird. Wir nennen dies innere Einstellung, feste Überzeugung oder eben Haltung.

AoA: Handelt es sich also um die Summe der übergeordneten Strukturen, die ich im Laufe meines Lebens gesammelt habe?

Gerald Hüther: Genau. Die Erfahrung wäre gewissermaßen eine Linie und eine Summe von Erfahrungen wären ganz viele Linien, die in eine ähnliche Richtung verlaufen und als ein Bündel hervortreten. Dieses Bündel bestimmt sehr stark die Bewertungen und das ist das Entscheidende, denn sie lenken die Wahrnehmung und bilden die Grundlage von Entscheidungen.

AoA: Wie müsste man vorgehen um eine Haltung zu entwickeln? Nehmen wir Neugier zum Beispiel.

Gerald Hüther: Wichtig wäre erst mal zu erkennen, dass wir alle mal mit einer angeborenen Entdeckerfreude ins Leben gestartet sind. Entdeckerfreude verwende ich lieber als das Wort Neugier, das darauf hindeutet, dass es gesellschaftliche Zeiten gab in denen diese Entdeckerfreude als nicht sehr wünschenswert erachtet wurde. Ursprünglich ist also diese “Neugier” da und dann ist sie irgendwann verschwunden. Deshalb geht es um die Wiedererweckung von etwas. Entdeckerfreude geht durch negative Erfahrungen in der Beziehung zu anderen Personen verloren: Beim Verfolgen der eigenen Interessen und beim eigenen Entdecken. Sie wird einem also geraubt, weil jemand anderes sich nicht darüber freut. Meist geht es darum, dass jemand anderes vorschreibt, was man machen soll und die Vorstellungen, Maßnahmen oder Bewertungen so von anderen übernommen werden. Dadurch wird diese Entdeckerfreude blockiert. Was man nun zu jeden Zeitpunkt des Lebens machen kann, ist einem Menschen zu helfen eine neue, andere Erfahrung zu machen, die ihm deutlich macht, dass es Spaß machen kann, etwas Neues zu entdecken. Dadurch würde die von Anfang an bestehende positive Kopplung des Entdeckens an die Lust und an die Freude, wieder gestärkt und die erst nachfolgend entstandene Kopplung von Entdeckerfreude an Angst und hemmende Strukturen wird überlagert. Es ist also eine Stärkung der ursprünglichen Lernlust, die nun wieder dominant wird. Je besser dies gelingt, desto stabiler ist das neue Muster. So kann aus jemandem, der keine Lust mehr aufs Entdecken hatte, plötzlich jemand werden, der sich wieder an seinen eigenen Entdeckungen begeistern kann.

AoA: Es gibt Künstler die Kunstwerke zusammen mit Menschen entwickeln, die in künstlerischen Belangen unerfahren sind. Ist dies ein sinnvoller Weg um in kleinen Schritten die eigene Kreativität oder Neugier wieder zu entdecken?

Gerald Hüther: Das Problem ist, dass man niemanden zwingen kann eine neue Erfahrung mit seiner eigenen Lust am Entdecken zu machen. Deshalb gilt es Bedingungen zu schaffen mithilfe derer die Person Lust darauf bekommt. Das heißt man müsste einen Erfahrungsraum gestalten, in dem die Person wieder Lust bekommt, sich mit etwas zu beschäftigen und etwas zu erforschen. Spielerische Erfahrungsräume eignen sich dafür sehr gut, auch wenn es für Erwachsene unter Umständen schwierig sein kann. Die Vereinigung der spielerischen mit der künstlerischen Komponente, sodass die Person wiederentdeckt, was sie alles kann, ist ein guter Weg. Dadurch öffnet sie sich auch wieder für neue Erfahrungen.

AoA: Was gibt es für andere Wege für Erwachsene, wenn das Spielerische oftmals schwierig ist?

Gerald Hüther: Kunst wäre ein solcher Bereich, der Erwachsenen die Möglichkeit bietet sich nochmal in einem druckfreien Erfahrungsraum einer bestimmten Beschäftigung oder einem Erkenntnisprozess hinzugeben. Wenn der Druck raus ist, nennen wir das immer Spiel und wenn das Erwachsene machen, dann nennt man es eben häufig Kunst.

AoA: Beim Thema Druck spielt auch Angst immer eine große Rolle. Kann man Angstfreiheit lernen oder trainieren?

Gerald Hüther: Trainieren kann man es nicht, aber man kann die Erfahrung machen, dass man jemand ist, der in unterschiedlichen Lebenssituationen mit sehr unterschiedlichen Herausforderungen oder Problemen letztendlich doch gut zurechtkommt. Das würde die Grundlage dafür bilden, dass die betreffende Person wieder Vertrauen in die eigene Kompetenz entwickeln kann. Die erste große Ressource gegen die Angst ist entsprechend das Vertrauen in sich selbst. Das alleine reicht jedoch nicht, da man selbst und auch die Anforderungen in einem ständigen Wandel begriffen sind. Deshalb kann es natürlich vorkommen, dass man mit seinen eigenen Kompetenzen nicht mehr weiterkommt. dann ist es gut, wenn die zweite Ressource noch verfügbar ist, die sich aus dem Vertrauen in andere Personen speist und man es mit jemand anderem zusammen machen kann. Aber selbst das ist nicht immer verlässlich, denn man kann Partner verlieren oder sich von ihnen trennen und deshalb ist die eigentlich zentrale Vertrauensressource für uns Menschen der Glaube daran, dass es wieder gut wird. Man könnte auch sagen, dass man in dieser Welt gehalten wird. Dieses Vertrauen ist unverrückbar, wenn man es einmal entwickelt hat, aber in unserer heutigen Gesellschaft ist es mittlerweile fast allen Menschen weitgehend verloren gegangen. Die Buddhisten bezeichnen dies „Teil des kosmischen Prinzips zu sein“ und die christlichen Religionen meinen, „dass Gott schützend seine Hand über den Menschen hält“. Aber im Kern geht es immer um das Gleiche, nämlich um die Sicherheit und das Vertrauen in Welt gehalten zu sein.

AoA: Kann man auf diese Weise die Balance immer wieder erlangen, auch im Hinblick auf das mögliche Scheitern?

Gerald Hüther: Wenn man diese drei Vertrauensressourcen besitzt, dann ist die Chance äußerst hoch, dass man eigentlich gar nicht mehr scheitern kann. Wenn man nur auf seine Kompetenzen baut, kann man scheitern. Wenn man nur auf seine Freunde baut, kann man auch scheitern. Wenn man jedoch sowohl auf die eigenen Kompetenzen als auch die Freunde und auch auf das Gefühl des Gehaltenseins bauen kann, dann kann nichts mehr passieren. Das sind dann jene Menschen, die angstfrei durchs Leben gehen. Die freuen sich tatsächlich darüber, wenn etwas passiert, das auf den ersten Blick wie eine Schwierigkeit aussieht, weil es ihnen die Chance bietet daran weiter zu wachsen. Man kann natürlich ahnen, dass so ein dreifaches Vertrauen nicht unterrichtbar, sondern nur durch entsprechende Erfahrungen erwerbbar ist. Optimalerweise müsste man schon als Kind die Gelegenheit haben sehr viele unterschiedliche Herausforderungen zu erleben und die Sicherheit bekommen, dass man mit sehr unterschiedlichen Leuten immer wieder Lösungen und Unterstützung findet. Und man müsste dieses dritte Vertrauen aufbauen können. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass unsere meisten Märchen Geschichten erzählen, die genau dieses Vertrauen, nämlich dass es wieder gut wird, in den Mittelpunkt stellen. Es geht gut los, dann wird es problematisch und scheint fast unlösbar und letztlich wird alles wieder gut. Ich glaube, dass diese tradierten, kulturell überlieferten Märchen und Epen genau diesen Zweck der Vergewisserung erfüllen.

AoA: Die Unterscheidung in zwei Gehirnhälften ist schon seit Jahren aktuell und so auch die Einschätzung, dass kreative Menschen eher mit der rechten Gehirnhälfte arbeiten. Stimmt das?

Gerald Hüther: Es gehört zu den Ordnungsprinzipien des sich entwickelnden Gehirns, dass es sich lateralisiert. Es geht um Spezialisierungen, die stattfinden. Möglicherweise hängen die Gründe dafür damit zusammen, dass das Herz auf der linken Seite ist und das Gehirn deshalb schon embryonal in ihren beiden Hälften nicht ganz gleichverteilt versorgt wird. Dadurch differenzieren sich einige Neuronenverbände auf der einen Seite anders als auf der anderen Seite und ein Ergebnis davon ist, dass meist auf der linken Seite ein Sprachzentrum entsteht. Über dieses Sprachzentrum wird dann das gesamte analytische Denken organisiert. Damit besteht eine Lateralisierung, wo auf der linken Seite eher die kognitiven und analytischen Fähigkeiten verortet werden und auf der rechten Seite eher die ganzheitlichen Betrachtungsweisen und die emotionalen Bereiche. Diese Art von Lateralisierung ist bei Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt, bei Männern meist stärker als bei Frauen. Bei den Männern ist das Verbindungsstück der beiden Gehirnhälften, der sogenannte Balken oder corpus callosum, sogar etwas dicker und deshalb sind Männer auch häufig nicht so gut in der Lage, beide Hälften zur gleichen Zeit zu benutzen. Wenn Männer zum Beispiel durch einen Hirninfarkt der die linke Seite zerstört die Sprache verlieren, , haben sie große Schwierigkeiten die Sprache wieder zu erlernen. Sie müsste dann ja auf der rechten Seite wieder aufgebaut werden , wo es aus der vorsprachlichen Zeit noch einen Rest eines Sprachzentrums gibt. Dort hätte die Sprache auch mal angelegt werden können, es ist aber im Zuge der Lateralisierung nicht dazu gekommen. Trotzdem haben wir es alle einmal benutzt und auch als Erwachsene benutzen wir es meist noch zum Singen. Dieses Zentrum kann man dann wieder ausbauen und über das Singen die Sprache wieder erlernen. Bei Frauen geht dies leichter.

AoA: Heißt das, dass Männer, die im Chor singen, es nach einem Schlaganfall leichter haben?

Gerald Hüther: Ja, das ist durchaus möglich.

AoA: Wie stehen Sie zu der Theorie, dass Künstler eher die rechte Gehirnhälfte nutzen und Ingenieure die linke? Heißt das, dass Kreativität eine „einseitige“ Leistung ist?

Gerald Hüther: Das hat mit der Lateralisierung nicht unmittelbar was zu tun. Heutzutage wird unter Kreativität oft das lineare Weiterdenken vorhandener Lösungen verstanden, was man auch “linear innovation” nennt. Ein Beispiel dafür wäre die Weiterentwicklung eines simplen Fensters zu einem Fenster mit Doppelverglasung, Fensterbrett und Plastikrahmen. Das hat jedoch mit Kreativität relativ wenig zu tun. Richtige Kreativität findet dann statt, wenn etwas wirklich Neues in die Welt gelangt. Die kreativen Durchbrüche, wie z.B. die Erfindung der Dampfmaschine, sind niemals durch lineares Weiterdenken gelungen und lineares Weiterdenken geht zur Not auch unter Druck. Aber diese kreativen Durchbrüche findet man wirklich nur unter druckfreien Bedingungen und das liegt daran, dass es für solche Art von Innovationen oder Kreativität erforderlich ist, sehr viele unterschiedliche Wissens- und Erfahrungsinhalte, die im Gehirn alle lokal abgespeichert sind, gleichzeitig aktivieren. Es muss also möglichst viel im Gehirn “eingeschaltet” sein. Ähnlich wie bei einem Apotheker, der ganz viele Schubfächer hat: Man muss sehr viele dieser Schubfächer aufmachen, und nur mit einem Gehirn, in dem ganz viele Erfahrungsinhalte aktiviert und damit auch zugänglich sind, gelingt es manchmal und auch eher durch Zufall oder Glück, dass sich dort plötzlich etwas miteinander verknüpft, was man unter normalen Umständen niemals miteinander verknüpft hätte. So entsteht etwas wirklich Neues und das ist Kreativität. Wobei man natürlich sagen muss, dass auch dies nicht wirklich neu ist, sondern sich etwas bereits vorhandenes nur neu verknüpft hat. Es ist also eine neue Kombination von etwas, das davor getrennt gewesen ist.

AoA: Fällt dies auch in den Bereich der Lateralisierung?

Gerald Hüther: Jemandem, der stark lateralisiert ist, fällt das natürlich schwerer, da er sehr stark geradeaus denkt. Auf diese Weise ist es schwer einen kreativen Gedanken zu erhaschen.

AoA: Also ist also die Verbindung das Entscheidende?

Gerald Hüther: Ja, es geht immer um Konnektivität. Diese Konnektivität heißt nicht nur die Verbindung zwischen rechts und links, sondern auch zwischen vorne und hinten, oben und unten und alten Erfahrungen und neuen Erfahrungen. Je größer das Ausmaß der Konnektivität ist, desto größer ist die Chance, dass sich dort etwas miteinander verknüpfen kann. Das macht auch deutlich, dass sie mit kreativen Prozessen nur dann zu guten Ergebnissen kommen, wenn sie auch genug haben, was sie miteinander verknüpfen können. Jemand, der nicht viel weiß, kann auch nicht viel Kreativität entwickeln.

AoA: Das heißt erst die Vielfalt der Erfahrungen bietet die Möglichkeit solche vielfältigen Vernetzungen aufzubauen, die zu den “breakthrough innovations” führen?

Gerald Hüther: Genau so sehe ich das.

AoA: Fällt Ihnen noch etwas aus dem Bereich der Gehirnforschung ein, was für uns wichtig sein könnte?

Gerald Hüther: Es wird in der Öffentlichkeit immer so getan als seien unsere Verhaltensweisen durch das Gehirn gesteuert. Zum Beispiel kann man so den Leuten, die eine Sucht entwickelt haben, zeigen, dass sie dort bestimmte Netzwerke aktivieren und sagen : “Guck, es liegt am Gehirn!”. Jemand hätte sozusagen ein zu großes Suchtzentrum oder ein anderer hätte ein zu kleines Vorderhirn. dabei wird jedoch vergessen , dass diese Art von Vernetzungen bei der Person auch erst das Ergebnis von Erfahrungen ist. Es liegt also gar nicht am Gehirn, sondern es liegt an den Erfahrungen, die diese Person gemacht hat und die erst diese Art von Vernetzungen in seinem Gehirn hervorgebracht haben. Früher haben wir für bestimmte Verhaltensweisen die Gene verantwortlich gemacht und noch früher den lieben Gott. Jetzt soll es auf einmal das Gehirn bzw. eine Vernetzung im Hirn sein. All das sind hilflose Versuche dem Dilemma zu entrinnen, dass man am Ende doch erkennen muss, dass es wir und unsere Art miteinander zu leben und unser Leben zu gestalten, dafür verantwortlich sind, was für Vernetzungen ein einzelner Mensch in seinem Gehirn aufbaut. Prinzipiell ist es möglich, dass alle möglichen Vernetzungen herausgeformt werden. Man kann ja auch sehen, dass Menschen, die in anderen Kulturkreisen groß werden, ganz andere Vorstellungen entwickeln als wir.

AoA: Interessant in ihrem Buch war auch Ihre Idee zum nächsten Kondratjew-Zyklus der aus sozialer, nicht technischer Natur künftige Innovationen tragen könnte.

Gerald Hüther: Diese Idee kann man nur denken, wenn man davon ausgeht, dass wir jetzt wirklich an einem Punkt angekommen sind, der eine ganz grundsätzliche Transformation unseres Denkens und Fühlens herbeiführt.

AoA: Ist das ein grundsätzlicher „globaler Idealismus“ oder nur ein Reflex um eine fehlende Balance wiederherzustellen?

Gerald Hüther: Was man erlebt ist schon bisweilen zum Verzweifeln. Ich glaube das liegt daran, dass wir alle nicht in der Lage sind, weit genug zurückzutreten und zu erkennen was hinter diesen Prozessen verborgen ist. Das ist nämlich das Prinzip der Selbstorganisation, das man sich genauer anschauen sollte.

AoA: Was haben Sie Erfolgskriterien für Selbstorganisation gefunden?

Gerald Hüther: Jedes lebende System organisiert die Beziehungen seiner Komponenten oder Mitglieder so lange bis die zur Aufrechterhaltung dieses Systems erforderliche Energie so gering wie möglich ist. Nehmen wir ein Familiensystem: Auch dort müssen sich die Beziehungen so lange neu ordnen bis sie nicht mehr so viel Energie verbrauchen. In sozialen Systemen passiert das häufig nicht , weil soziale Systeme in der Lage sind, sich eine sehr energieaufwendige Beziehungskultur zu leisten, so lange sie von außen Energie in das System hineinpumpen können.

AoA: Spielen Sie auf Hierarchien oder Stabsfunktionen an?

Gerald Hüther: Nein, ich glaube wir sind hier bei einem anderen Thema; Wenn eine wirklich sehr gestörte Familie noch länger zusammenbleibt, obwohl die Mitglieder nur schwer miteinander klarkommen verbraucht sie auch sehr viel. Sie braucht vielleicht ein tolles Auto, ein großes Haus und im Jahr drei Reisen in die Südsee. Wenn wir im Westen unsere Art von gestörten Beziehungen, die viel Reibungsverluste erzeugen und viel Energie verbrauchen bisher in dieser Weise aufrecht erhalten konnten, dann lag das daran, dass wir uns die Energie in Form von Ressourcen aus der dritten Welt besorgt haben. Also haben wir auf Kosten anderer unsere ungünstigen Beziehungsstrukturen aufrechterhalten. An dieser Stelle bin ich beim Begriff der Selbstorganisation. Es passiert uns jetzt zwangsläufig, dass uns diese Ressourcen nicht mehr in dem Maße zur Verfügung stehen. Es sind zu viele und andere wollen auch etwas davon abhaben. Damit gelingt es uns nicht mehr ohne weiteres, ungünstige Beziehungsstrukturen innerhalb unserer Gesellschaft länger aufrecht zu erhalten, entweder weil uns die Energie dazu ausgeht, die wir bräuchten, oder weil die Reibungsverluste zu groß werden.

AoA: Dann beschreiben sie aber eine Art Zwangsläufigkeit.

Gerald Hüther: Ja, genau das ist Selbstorganisation. Selbstorganisation bedeutet, dass sich etwas selbst organisiert, aber das für sich genommen ist uninteressant. Man muss es im Kontext betrachten. Es organisiert sich ja niemals etwas außerhalb eines gewissen Kontextes. Nehmen wir einen Knochenbruch: Man kann Bedingungen schaffen, dass die Knochenenden nach dem Bruch wieder so gut zusammengestellt werden, dass die Selbstorganisationsprozesse dazu führen, dass alles wieder so zusammenheilt wie es vorher war. Das ist medizinische Kunst. Wenn man das allerdings nicht tut und der Knochen nicht richtig gestellt wird, dann wird in einem sich selbst organisierenden Prozess trotzdem eine Verbindung zwischen den beiden Knochenhälften entstehen. Allerdings hängt dann beispielsweise das Bein zur Seite weg, wie man das bei Hunden sehen kann, um die sich keiner gekümmert hat. Auch das ist Selbstorganisation. Selbstorganisation heißt nur, dass es sich selbst organisiert, aber die Frage ist, wohin es sich selbst organisiert und das erfährt man erst bei Betrachtung des Kontextes. Nun wäre es interessant diese Idee beispielsweise auf ein Unternehmen anzuwenden, das jetzt im Wettbewerb mit Unternehmen aus Asien steht. Es wird sich in dem deutschen Unternehmen selbstorganisatorisch ein Prozess entwickeln, der entweder dazu führt, dass es versucht noch besser zu werden als die Unternehmen in Asien, oder dass das Unternehmen nach Asien geht und dort weiter arbeitet. Das hilft langfristig nicht, da man dadurch das Problem nur verschiebt. Die einzige Lösung kann sein, dass das Unternehmen einen anderen Weg findet um Gewinne zu machen, als durch noch stärkere Optimierung der Produktionsprozesse bestehen zu wollen. Das heißt es müsste ein Unternehmen werden, das darauf baut, durch Innovationen immer wieder neue Entwicklungen anstoßen zu können. damit wäre es dann nicht mehr so stark abhängig vom asiatischen Markt, sondern hätte dann seine eigene Stabilität gefunden. In dieser Stabilität könnte es sich dann auch am Markt behaupten. Die große Kunst des Menschen ist es gerade solche Prozesse zu erkennen und wenn er sie erkannt hat, kann er sie auch gestalten. Bisher ist es so, dass wir die Prozesse nicht gestalten können, weil wir sie gar nicht erkannt haben. Wir sind momentan Opfer dieser sich selbst organisierenden Prozesse und wissen nicht wie es kommt, dass Griechenland gerade pleite geht und schieben es dann noch auf die unvernünftigen Griechen.

AoA: Was müssten wir tun, um diese Prozesse zu erkennen?

Gerald Hüther: Wir müssten unser Weltbild ändern. Wir haben im Augenblick immer noch ein Weltbild, das auf dem Machbarkeitswahn einer vergangenen Epoche beruht. Dieses Weltbild heißt, wenn wir uns richtig anstrengen, wird es schon. So funktioniert die Natur aber nicht, da kann man sich anstrengen so viel man will. Was wir müssten versuchen zu verstehen, dass wir immer nur die Rahmenbedingungen gestalten können in denen sich das, was wir uns wünschen, dann auch ereignet. Das wäre dann der Prozess des Gelingens. Damit man diese Bedingungen schaffen kann, müsste man eine Haltung entwickeln, die davon ausgeht, dass man lebende Prozesse nicht machen kann, sondern dass man ihnen nur helfen kann, dass sie sich selbst so organisieren wie es für das Gesamtsystem günstig wäre.

AoA: Wir brauchen also die Haltung, damit wir sehen können, aber um die Haltung zu entwickeln brauchen wir die Erfahrung. Ist das nicht das klassische Henne-Ei-Problem?

Gerald Hüther: Ich sehe dieses Problem nicht, weil niemand die ungünstigen Haltungen, die wir beklagen mit auf die Welt gebracht hat. Sie sind ein Ergebnis der ungünstigen Erfahrungen, die manche Menschen beim Heranwachsen machen mussten. So kann man auch erkennen, wo man die Probleme anfassen sollte: Man müsste beim Bildungssystem anfangen, um Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen Erfahrungen zu machen, die für ihr weiteres Leben günstig sind und durch die sie Haltungen erwerben, die für das Zusammenleben im 21. Jahrhundert günstig sind. Zum Beispiel geht es hier wieder um das Thema der Ressourcenverschwendung. Dann hätte man eine andere nachwachsende Generation, auch wenn der Prozess sicher lange dauern würde. Unser Schulsystem ist sehr rigide. Man kann sehen wie viel Zeit es braucht, bis sich tradierte Haltungen in allen Etagen des hierarchischen Systems zu verändern beginnen. Deshalb gibt es noch die zweite Möglichkeit, dass in den Unternehmen, die das erkannt haben, verantwortliche Führungskräfte auf die Idee kommen, dass sie Rahmenbedingungen schaffen sollten, die dazu führen, dass die Mitarbeiter Erfahrungen machen, um so eine Haltung zu entwickeln, die zeitgemäßer ist. Mit anderen Worten eine Haltung, die dazu führt, dass nicht so viele Reibungsverluste innerhalb der Firma entstehen.

AoA: Geht es neben den Reibungsverlusten nicht auch um eine Zielvielfalt, die über die eindimensionale Profitorientierung hinaus geht?

Gerald Hüther: Ja, wobei ich schon der Meinung bin, dass es nicht zielführend ist, wen man sich auf ein Ziel fokussiert. Das heißt, wenn sich die Art und Weise, wie Mitarbeiter miteinander in Beziehung treten oder wie Führungskräfte mit ihren Mitarbeitern zusammenarbeiten verbessert, entsteht als Nebenprodukt Leistung. Was wir im Augenblick immer versuchen, ist die Fokussierung auf Leistung und produzieren als Nebenprodukt gestörte Beziehungen. Genau das ist das Dilemma, aus dem wir den Ausweg nicht finden.

AoA: Ersetzen die Umgangsformen die Notwendigkeit des Ziels?

Gerald Hüther: Die ungünstige Form, die diese riesigen Reibungsverluste und damit einhergehend den Ressourcenverbrauch und mangelnde Leistungen hervorbringt, entsteht dann, wenn man Menschen als Objekte behandelt. Sie fühlen sich nicht gesehen und werden von anderen zu Objekten von deren Vorstellungen, Zielen, Absichten, Bewertungen, Maßnahmen usw. gemacht. Das ist eine Beziehungskultur, die im Grunde genommen nur noch stagniert und nur noch die Fähigkeit hervorbringt entweder andere noch besser zu Objekten zu machen, oder sich noch besser aus dieser Art von Objektivierung zu retten. Diese Beziehungskultur kann jedoch etwas nicht hervorbringen, was für jeden evolutionären Prozess unumgänglich ist und das ist Koevolution und Kokreativität. Die Dinge müssen sich miteinander entwickeln, sonst kann sich auch nichts von selbst organisieren. Kokreativität, also die Möglichkeit, dass man voneinander lernt und seine Erfahrungen miteinander teilt, entsteht nur dann, wenn Menschen in Beziehungen leben, wo sie sich nicht gegenseitig zu Objekten machen, sondern einander als Subjekte begegnen. Da haben sie meiner Ansicht nach den Schlüssel für fast alle Probleme, die wir im Augenblick in unserer Gesellschaft haben. Offiziell will es zwar keiner zugeben, aber lebenspraktisch ist es so, dass diese Objektivierung in allen Lebensbereichen ständig passiert. Zum Beispiel die Beziehung zwischen Kunde und Verkäufer, wo sie beide eine Rolle spielen, in der sie einander als Objekte begegnen und sich dann gegenseitig so gut wie möglich austricksen. In der Art des einander Benutzen werden sie auch immer besser, aber sie tauschen nichts mehr aus. Deshalb stagniert eine Gesellschaft automatisch, wenn sie diese Art von Objektbeziehungen aufgebaut hat. Sie ist möglicherweise in unserer gegenwärtigen Gesellschaft durch den Primat der Ökonomie so dominant geworden, dass es ständig erforderlich ist, den anderen als Objekt zu benutzen. Mit dieser Objektbeziehungskultur können wir uns aus der Stagnation jedoch nicht befreien. So lange wir das nicht ändern, wird nichts passieren. Es wird lediglich dazu führen, dass das Ausmaß an Ressourcenvergeudung so groß wird, dass wir auf diesem Planeten nicht mehr überleben können. Irgendwann wird es so heftig sein, dass man dann überlegt, ob man nicht doch lieber gemeinsam und miteinander nach Lösungen sucht. Das ist aber auch nicht die günstigste Variante, weil sie dann eine Beziehungskultur aufbauen, die eigentlich erzwungen ist und nicht auf Freiwilligkeit beruht. Das sind dann sogenannte Zweck- und Notgemeinschaften, die wiederum nicht wirklich in einer Beziehungskultur getragen sind, die von der Begegnung von Subjekten gekennzeichnet ist, sondern hier benutzen sich die Menschen genauso gegenseitig. Nur eben in einer gemeinsamen, zielführenden Weise. In gewisser Weise könnte man sagen, dass auch die üblichen Kooperationen, die in Unternehmen eingegangen werden, nach wie vor so beschaffen sind, dass einer den anderen für seine Zwecke benutzt.

AoA: Das Thema der Win-Win-Situation?

Gerald Hüther: Ja genau. Ich habe einen Vorteil, du hast einen Vorteil und jeder hat einen Vorteil und am Ende ist alles toll. Doch eigentlich benutzt man einander nur, aber man begegnet einander nicht, um im einen kokreativen Prozess nach neuen Lösungen zu suchen.

AoA: Wäre es denn in Ordnung, wenn man gegenseitig einen Wert für sich generiert und sich trotzdem als Subjekte begegnet?

Gerald Hüther: Das ist für mich die einzige Intervention, die diese Gesellschaft braucht. Und zwar nicht nur, dass man den anderen nicht mehr als Objekt behandelt, sondern sich selbst auch nicht. Schon als Kind gibt es nur zwei Lösungen, die man findet wenn man zu einem Objekt gemacht wird. Die eine Lösung heißt, dann mache ich eben den anderen zum Objekt und das führt zu unserer gegenwärtigen Beziehungskultur. Diejenigen, die dies am besten können, sind meistens auch noch am erfolgreichsten. Die zweite Lösung für Kinder ist, dass sie sich selbst zum Objekt machen und sich sagen sie seien blöd oder nicht liebenswert. Das ist genauso fatal, weil diese Menschen nicht mal zu sich selbst eine gute Beziehung entwickeln können.

AoA: Wenn morgen die Deutsche Bank bei Ihnen anriefe und Sie um Rat bezüglich von Selbstorganisation fragen würde. Wo würden Sie anpacken?
Gerald Hüther: Ich würde darauf nicht antworten, weil diese Selbstorganisation nicht von der Deutschen Bank ausgelöst werden kann. Ich habe es sogar probiert. Ich saß mal mit Herr
Fitschen zusammen und habe versucht ihm zu erklären was ein Kulturwandel ist. Das ist jetzt schon drei Jahre her und wie man an den weiteren Entwicklungen sehen kann, ist das leider nicht auf allzu fruchtbaren Boden gestoßen. Ich glaube, für diese Art von Selbstorganisation, die wir brauchen, müssten wir sehr grundsätzlich umdenken, da sie nicht von oben her organisierbar, sondern nur von unten her entwickelbar ist. Deshalb ist die Hoffnung, dass irgendjemand kommt und uns rettet, wieder nur eine Illusion. In der Arbeit als Team kann man versuchen eine solche kleine Gemeinschaft zu bilden in der man das lebt, was man für wichtig hält. Das nenne ich dann eine Potenzialentfaltungsgemeinschaft, in der man eine Art des Umgangs miteinander entwickelt, die dadurch gekennzeichnet ist, sich gegenseitig nicht mehr als Objekte zu benutzen. Auf diese Weise können Inseln geschaffen werden, aus denen besondere Leistungen erwachsen. Diese besonderen Leistungen würden dann nach außen hin eine Attraktivität für diese Art von Beziehungskultur schaffen, die dazu führt, dass sie sich auch ausbreitet.

AoA: Deshalb sagten Sie auch, dass man auch lieber mit Organisation zusammenarbeiten sollte, die an dieser Stelle eine Bereitschaft mitbringen?

Gerald Hüther: Richtig, man kann eben einen solchen sich selbst organisierenden Prozess niemals von außen anordnen. Die Bereitschaft, sich in einen solchen Veränderungsprozess hinein begeben zu wollen, muss vorhanden sein. Das ist diese Intentionalität: Wenn jemand unbedingt weiter rauchen will, dann kann man Entwöhnungsprogramme machen so viel Sie wollen. Er müsste erst mal auf die Idee kommen, dass es ein guter Schritt wäre damit aufzuhören.

AoA: Aber auch jemand, der diese Intention mitbringt, mag sich die Frage stellen, wie er anfangen sollte.

Gerald Hüther: Wenn die Intention hinreichend stark ist, dann fängt er nun mal damit an, dass er keine Zigarette mehr raucht. Es ist eigentlich sehr einfach. Woran es mangelt, ist dass die Intentionalität offenbar doch nicht groß genug ist. Deshalb hat man zum neuen Jahr auch immer viele Vorsätze, doch am Ende ist es doch nur dummes Gerede, weil keiner die vorgenommen Dinge
wirklich will. Wenn jemand es wirklich wollte, könnte er es einfach machen. Dann rennt man zu Therapeuten oder Coachs, die es dann richten sollen. Das ist wieder das Abschieben von Verantwortung für sich selbst, sein eigenes Tun und das Zusammenleben mit anderen Menschen und anderen Lebewesen auf dieser Erde. Keiner ist bereit, die Verantwortung dafür wirklich zu übernehmen. Deshalb suchen wir ständig nach jemandem, der es für uns macht. Es wird aber eine vergebliche Suche bleiben, da keiner kommen wird. Wir haben bereits so viele Instanzen durchprobiert: Den lieben Gott, die Gene und jetzt das Gehirn, aber keiner ist es. Jetzt gehen uns die Instanzen aus und deshalb ist es unvermeidlich, dass wir zu der Erkenntnis kommen, dass wir es selbst machen müssen.

AoA: Stichwort Digitalisierung: Führt es zu einer Verlängerung oder Verkürzung bis zur Erkenntnis?

Gerald Hüther: Wenn ich die Digitalisierung mit Abstand betrachte, führt sie dazu, dass alles schneller wird. Und wenn ich mich frage, was das im Sinne von Selbstorganisation und Evolution für einen Sinn machen könnte, dann komme ich zu dem Schluss, dass es dazu führt, dass man die eigenen Fehler, die man macht, noch im Laufe seiner eigenen Lebenszeit auslöffeln muss. Da sind wir an einem interessanten Punkt, da fast alle Fehler, die von Menschen in der Vergangenheit gemacht worden sind, nicht von ihnen ausgebadet werden mussten, sondern von den nachfolgenden Generationen. Jetzt sind wir das erste Mal im zunehmenden Maße mit der Situation konfrontiert, dass wir die schäden, die wir verursachen selber wegräumen müssen. Ein typisches Beispiel dazu sind im Augenblick die Atomkraftwerke. Es handelt sich letztlich um einen Erkenntnisprozess, zu dem man nicht durch wissenschaftliche Erkenntnisse kommt, sondern durch Ausprobieren, Fehler und Irrtümer. Aber damit man diese erkennt, dürfen sie nicht erst dann auftreten, wenn man bereits gestorben ist. Unter diesem Gesichtspunkt führt die Digitalisierung zu einer enormen Beschleunigung aller Prozesse in der Gesellschaft, womit die Defizite der Gesellschaft immer deutlicher werden. Im Kontext der Selbstorganisation bedeutet das, dass Menschen nun zunehmend schneller begreifen wie sie es nicht machen können. Damit besteht dann die Chance, es anders zu machen. Wenn es so langsam geht wie bisher wird man auch nicht reagieren. Wir können aufgrund der digitalen Medien jetzt vieles messen, darstellen und erkennen, was uns vorher gar nicht zugänglich gewesen ist, als wir uns der ganzen Folgen noch nicht bewusst waren. Hinzu kommt, dass wir sie nun auch als Botschaft über die ganze Welt verbreiten können. Die Zeit, in der sich Entwicklungen nur lokal zugetragen haben, ist vorbei. Jetzt ist die ganze Menschheit in den sich selbst organisierenden Prozess involviert. Es betrifft uns jetzt auch, wenn in China die Luftverschmutzung durch Co2 extrem hoch ist. Früher war es so, dass die Europäer keinen blassen Schimmer davon hatten, dass die Hunnen kommen. Wie auch, denn es gab ja keine Kommunikation. Heute haben wir so viel Kommunikation, dass so etwas eigentlich nicht mehr passieren kann. Das heißt noch lange nicht, dass wir wissen was wir dagegen tun können, aber es wird uns vor Augen geführt und wir können nicht so tun als würden wir es nicht merken. Die Dinge werden spürbar und zwingen uns in einen Prozess. Der Prozess kann nur heißen wir müssen die Art und Weise wie wir zusammenleben verändern.

AoA: Wenn man die Intention mitbringt Mitglied einer Gesellschaft neuer Ordnung sein zu wollen, welche Kompetenzen erfordert es?

Gerald Hüther: Viele Menschen bemühen sich ja bereits. Was man beobachten kann ist, dass es sehr schwer ist aus solchen Mustern auszubrechen, wenn man es alleine macht. Deshalb wäre es aus neurobiologischer Perspektive viel günstiger, sich andere suchen mit denen man gemeinsam beschließt es anders zu machen. Dann kann man sich gegenseitig stärken. Unter Umständen kann man auch den scharfen Wind aushalten, der einem draußen in der alten Welt entgegenweht, weil man aus der eigenen Erfahrung mit der betreffenden Gemeinschaft weiß, dass man auf einem guten Weg ist. Ein schönes Beispiel, das man hier sehr gut anführen kann, sind die anonymen Alkoholiker. Für den einzelnen Alkoholiker ist es extrem schwierig, alleine den Weg aus der Sucht zu finden. Selbst die kompetentesten Suchttherapeuten mit akademischer Ausbildung und langjähriger therapeutischer Ausbildung schaffen es erheblich schlechter als diese anonymen Alkoholiker. Die haben zwar keinerlei Expertise, aber sie bilden eine Gemeinschaft, in der sich die Mitglieder gegenseitig helfen diese neue Erfahrungsebene miteinander zu erschließen .

AoA: In Ihrem Buch schrieben Sie, dass auch militärische Organisationen flachere Hierarchien einführen. Woher hatten Sie diese Information?

Gerald Hüther: Das kann man ganz einfach feststellen, wenn man die Kriegsführung der letzten 200 Jahre analysiert. In Waterloo sind sie noch in Blöcken marschiert, aufeinander zu und haben sich gegenseitig tot geschossen. Heute hat man partisanenartige Truppen, inzwischen sogar Drohnen. Von der klassischen Art der hierarchischen Konfrontation ist hier nicht mehr viel übrig geblieben. Generäle gibt es zwar immer noch, aber sie sind gewissermaßen ein Relikt aus der vergangenen Zeit und eine gewisse Ordnungsstruktur braucht man natürlich im Militär. Aber wenn es um den Einsatz geht, dann gewinnen diejenigen, die dezentral operieren, weil sie so unberechenbar werden. Im Augenblick ist der IS ein anschauliches Beispiel dafür. Unsere klassischen militärischen Strukturen aus dem vorigen Jahrhundert sind hier nicht mehr besonders hilfreich.

AoA: Sie haben kürzlich eine Akademie für Potentialentfaltung gegründet. Was genau ist das Konzept dieser Akademie?

Gerald Hüther: Die Einladung dazu sieht wie folgt aus: Wenn es irgendwo im Land eine Gemeinschaft gibt und jemand in dieser Gemeinschaft ist, der merkt, dass es innerhalb der Gesellschaft nicht so günstig läuft und diese Person sich auch selbst zutraut, etwas für die Verbesserung zu tun, dann könnte sie sich an der Akademie melden und würde als Research Fellow begleitet. Die betreffende Person würde dann dabei unterstützt, die Gemeinschaft, in der sie lebt, lernt und arbeitet in einen kulturellen Transformationsprozess zu führen.

AoA: Handelt es sich also um ein Coaching-Angebot?

Gerald Hüther: Der eigentliche Akteur ist immer ein Mitglied dieser Gemeinschaft, das wird nicht von einem Coach übernommen. Das ist genau dem Umstand geschuldet, dass ein solcher Prozess in einer Gemeinschaft nur aus der Gemeinschaft selbst kommen kann. Genau wie ein Entwicklungsprozess im Gehirn nur aus dem eigenen Gehirn kommen kann. Deshalb versuchen wir es auf diese Weise und wenden uns nicht an ganze Organisationen. Die Führung einer Organisation, beispielsweise die der Deutschen Bahn, kann das Konzept interessant finden und prüfen, ob es irgendwo innerhalb der Deutschen Bahn ein Team gibt , das sich auf so einen Prozess einlassen möchte, um es auszuprobieren. Dann könnte sich jemand aus dieser Gemeinschaft melden, der von der Akademie begleitet wird. Beispielsweise sind wir mit dem Bahnhofsleiter der Deutschen Bahn in Kassel im Gespräch, ob er Lust hätte seine Mitarbeiter in diese andere Kultur zu führen. Es handelt sich also keinesfalls um eine Intervention mit einer ganzen Organisation, sondern nur mit einer Person.

AoA: Und wer hilft dann diesem Leiter?

Gerald Hüther: Die Hilfe ist relativ banal. Ich könnte es zum Beispiel machen, aber auch jedes andere Mitglied der Akademie, das eine gewisse Expertise mitbringt kann in die Rolle des Expert Fellows schlüpfen. Wenn alles was wir bisher besprochen haben, stimmt und es im Wesentlichen auf die Intentionalität ankommt, dann muss man versuchen, dass das gesamte Team des Bahnhofsmanagers so eine Veränderung ihrer bisherigen Beziehungskultur will. Dabei geht es nicht darum , gleich den ganzen Bahnhof zu verändern , sondern z.B. nur eine Woche auszuprobieren wie es ist, wenn man sich gegenseitig nicht mehr zum Objekt macht. Das ist die gesamte Intervention und deshalb braucht man dazu auch nicht viel. Es muss natürlich gut vorbereitet sein und dann kann man auf eine spielerische Art und Weise ausprobieren, wie es funktioniert.

AoA: Muss man nicht erst mal ein Verständnis dafür schaffen worin die Unterschiede liegen?

Gerald Hüther: Darüber wird dann auch innerhalb des Teams geredet: Wie schnell es passiert, dass andere Mitarbeiter als Objekte behandelt werden, wie oft es passiert und was passieren würde, wenn sie es anders machen. So ist im Vorfeld schon klar, worum es geht. Anschließend gibt es noch eine Zusammenkunft, in der darüber geredet wird, was passieren soll, wenn es zu Rückfällen in das alte Beziehungsmuster kommt. Hier werden dann Sicherheiten eingebaut und so ist die Zeit auch irgendwann reif, dass alle wollen und man anfangen kann. Die Schwelle sich darauf einzulassen ist auf diese Weise niedrig, aber gleichzeitig ist die Erfahrungsintensität so groß, dass sich die Mitarbeiter im sozialen Miteinander jedes Mal anfangen zu fragen, ob sie den anderen gerade objektivieren oder nicht. Damit kommt man in einen Erfahrungsbereich, der Bewusstwerdung des eigenen Tuns heißt. Wenn man das eine Woche lang durchhält, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass aus dieser Erfahrung eine Haltung wird. Wenn man es nun noch eine zweite und dritte Woche probiert, werden sich die neuen Strukturen schnell automatisieren und eine andere Kultur hat sich etabliert. Als Nebeneffekt dieser anderen Kultur würde sich dann der Bahnhof Kassel verwandeln und zwar auf eine Weise wie das vorher sowieso keiner gesehen oder für möglich gehalten hätte. Man kann die Leistungen, die aus so einer Potenzialentfaltungsgemeinschaft erwachsen, überhaupt nicht absehen. Deshalb hat es auch keinen Sinn im Vorfeld festlegen zu wollen, was man erreichen möchte. Aber die Gewissheit ist da, dass etwas entstehen wird, das hochspannend und vor allem sehr kreativ und innovativ ist.

Info

Ein Beitrag von Claudia Helmert.
Das Interview wurde am 02.07.2015 von Dirk Dobiéy durchgeführt.
Bildquelle: Gerald Hüther.

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